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Archiv-Artikel

Bremer Literaturpreis: Die Preisträgerinnen Misstrauen gegenüber der schnellen Phrase

Die Rudolf-Alexander-Schröder-Stiftung verleiht Brigitte Kronauer für „Verlangen nach Musik und Gebirge“ den mit 20.000 Euro dotierten Bremer Literaturpreis 2005

Bremen taz ■ Kino, Theater, Literatur, alle feiern die magische Attraktion der inhaltlich immer gleichen Geschichten, die nach dem immer gleichen Schema ablaufen: Exposition/dramatischer Höhepunkt/bedeutungsvoller Schluss. Das funktioniert perfekt, weckt aber auch die Sehnsucht nach Erneuerung der starren Konstruktionen. Neugierig wird registriert, wo es Unverwechselbares zu entdecken gibt. So wurde die Bremer Literaturpreisträgerin 2005, Brigitte Kronauer, zum Liebling der Kritik. Die 1940 in Essen geborene Literatin ist geprägt vom Nouveau Roman, also dem Misstrauen gegenüber der schnellen Phrase und dem flotten Heruntererzählen. Kronauer sucht in ihrer Weltaneignungsliteratur nach spontaner Wahrnehmung und sprachlicher Sensation. Da benötigt der Leser Geduld, denn unbefriedigt bleibt das Bedürfnis nach zupackenden Erzählmustern. Statt anregender Handlung feiert die Autorin die Erotik hellwachen Beobachtens und Assoziierens. Das ist literaturgeschichtlich zwar nicht neu (ein Verweis auf Marcel Proust mag hier genügen), führt aber zu einem unverwechselbar versponnenen wie bilderreichen Stil.

Die dynamische Entwicklung dieser Sprachmelodie habe im aktuellen Roman Verlangen nach Musik und Gebirge einen „avancierten Punkt“ erreicht, so die Autorin im taz-Gespräch. „Deswegen freue ich mich über die Verleihung in Bremen besonders, da dort mein Buch und nicht mein Lebenswerk gewürdigt wird – wie dies bei anderen Preisen der Fall ist, was immer nahe legt, man wäre mit seiner Kunst bereits am Ende.“ Sie aber wolle weiterforschen an ihrer Idee, einer vielgestaltigen Wirklichkeit aus betont subjektiver Perspektive zu begegnen.

In diesem Fall gibt eine sich auktorial dünkende Frau Fesch die Ich-Erzählerin, auch wenn sie das verallgemeinernde „man“ bevorzugt. Die Dame mittleren Alters verbringt ein verlängertes Wochenende in Oostende. Nichts besonderes, alles Mittelmaß: das Hotel, die Menschen im Hotel, ihr untereinander frei flottierendes Begehren, die graue Schäbigkeit des Badeortes. Selbst das Meer ist nur mittelmäßig in seiner Dämonie. Weswegen Kronauer auch nicht das, was passiert thematisiert, sondern wie Frau Fesch dabei zuschaut. Sie ist eine literarische Flaneurin, distanziert, illusionsfrei und amüsiert, aber auch eine Voyeurin mit spitzer Zunge – sowie in Ausnahmefällen auch mal eine freundlich Eingreifende, „getrieben von weiblichem Mitgefühl“, wie Kronauer sagt. „Alle ihre Blicke kenne ich gut.“ Blicke hinaus in die Welt, eingefärbt von der eigenen Emotionalität, Lebenserfahrung und Ideologie. Kronauer: „Ein sachlich nüchternes Porträt der Wirklichkeit gibt es nicht. Man kann nur zeigen, wie sie auf einen wirkt.“

Der Leser wird eingesperrt in den Kopf der Frau Fesch, um so mit dieser, seiner eigenen Wahrnehmungstechnik konfrontiert zu werden. Es geht der Schriftstellerin um den philosophischen Gedanken, dass wir die Welt nie so sehen, wie sie ist, sondern als Vorstellung selbst konstruieren. In unserem Kopf, so Kronauer, würden wir uns die Welt zu einem schlüssigen Roman zusammenreimen. Ein literarisches Sujet par excellence.

So ist auch die Bestandsaufnahme der drei sommerfrischen Tage an der belgischen Küste mehr Kino im Kopf denn authentisch erlebt, ist Dichtung und Wahrheit der Frau Fesch. Vor ihrem geistigen Auge, also im Roman, werden die Figuren zu Puppen: die verkrachte Künstlerexistenz, der schwule Parfümeriehändler, die schläfrige Schönheit der jungen Liebenden, und so weiter – und so typisiert. Kronauer treibt die Beschreibungen dezent ins Karikierende.

Sie benutzt eine ausschweifende, die Gegenstände umkreisende statt aufs Korn nehmende Sprache, schickt einem gewählten Wort gern ein halbes Dutzend weitere hinterher. So wird die Verfertigung von sprachlicher Genauigkeit durch Abwägen, Probieren und Verbessern behauptet. Gemeint sei aber, so Kronauer, das Gegenteil: die Unmöglichkeit sprachlicher Genauigkeit. Die artistische Formulierungslust ist also pure Ironie. Auch das natürlich ein Verweis auf Kronauers literarische Erkenntnistheorie. „Wie eine vergebliche Beschwörung überstürzen sich die Worte, die ein Ding benennen wollen, denn es gibt nie nur einen treffenden Ausdruck für eine Sache“, sondern mindestens so viele, wie Menschen, die diese wahrnehmen, also interpretieren würden.

Mit ihrem Schreibexperiment ist Kronauer in Verlangen nach Musik und Gebirge auf einem literarischen Niveau angekommen, das alle Ehren des Bremer Literaturpreises wert ist.

Jens Fischer