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Archiv-Artikel

Das gefürchtete Jugendamt

KINDESMISSHANDLUNG Aus Furcht vor dem Jugendamt geht eine junge Mutter mit dem vom Lebensgefährten misshandelten Kind nicht zum Arzt. Nun steht sie vor Gericht

„Das Jugendamt“, sagt der Richter zur angeklagten Mutter, „hat Sie die Kurve kriegen lassen“

VON FRIEDERIKE GRÄFF

„Sie stehen hier anders vor mir als ich das nach den Akten erwartet hätte“, sagt der Richter am Harburger Amtsgericht zu Nina R.: Den Akten hatte er entnehmen können, dass die heute 25-Jährige ihre dreijährige Tochter am 14. September 2006 in der Obhut ihres damaligen Lebensgefährten zurückließ – obwohl dieser das Kind zuvor bereits geschlagen hatte und sogar gebissen. In jener Nacht dann vergewaltigte er das Kind.

„Als ich zurückkam, sah ich, dass sie massive Kopfverletzungen hatte, sie hat fürchterlich geschrien und der Lattenrost in ihrem Bett war rausgebrochen“, sagt Nina R. vor Gericht. Aber sie ging nicht zum Arzt, sie ging mit dem Kind zu den Nachbarn, Samira O., der Schwester des Täters und deren Mann, Younes D. Man war sich einig: Das Kind müsse nicht zum Arzt, es genüge, zu einer Apotheke zu fahren. Dort erzählte Nina D. etwas von einer Knöchelverletzung. Dennoch bekam sie keine Medikamente: Sie solle zum Arzt gehen. Nina R. aber tat gar nichts. Nun stehen sie alle drei vor Gericht: Nina R. wegen Verletzung der Fürsorgepflicht und unterlassener Hilfeleistung, Samira O. und Younes D. wegen Beihilfe zu unterlassener Hilfeleistung.

Nina R. hat keinen Schulabschluss, im Jahr 2006 konsumierte sie regelmäßig Marihuana. Der Vater des Kindes hatte zweimal den Notdienst des Jugendamts zu ihr geschickt, der jedoch nichts zu beanstanden hatte. Nina R. ist eine füllige junge Frau mit Pferdeschwanz und Brille. Sie antwortet klar auf die Fragen des Richters. Sie versucht nicht die Schuld auf die Mitangeklagten zu schieben. Es scheint, als sei es das verhasste Jugendamt gewesen, dass sie „die Kurve kriegen ließ“ – so formuliert es zumindest der Richter.

Entdeckt wurde die Vergewaltigung nur deshalb, weil eine Bekannte, die am nächsten Abend, als Nina R. eine Party besuchte, auf das Kind aufpasste, in die Klinik fuhr. Dort wurde, so steht es im Gutachten, die „massive Gewalteinwirkung“ am Kopf festgestellt. Und die Vergewaltigung. Dem Täter schrieb Nina R. noch einen Liebesbrief in die U-Haft, erst als die DNA-Probe ihn überführte, wandte sie sich von ihm ab. Die Schwester Samira O. sagte vor Gericht falsch für ihn aus.

Das Jugendamt schickte Nina R. mit ihrer Tochter in eine Mutter-Kind-Einrichtung – ihre letzte Chance, das Kind behalten zu dürfen. Ein halbes Jahr habe sie sich „ziemlich schwierig“ verhalten, sagt ein Mitarbeiter vor Gericht. Dann kam die Wende. „Alles war ich erreicht habe, verdanke ich ihnen“, sagt Nina R.. Sie könne nicht mehr nachvollziehen, warum sie damals nicht gehandelt habe. Die beiden anderen Angeklagten sagen, dass es ihnen leid täte. Und dass sie die Schwere der Verletzungen nicht hätten erkennen können.

Das Gericht verurteilt Nina R. zu sechs Monaten Freiheitsstrafe auf Bewährung, Samira O. wegen der zusätzlichen Falschaussage zu vier und Younes D. zu drei Monaten auf Bewährung.