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Archiv-Artikel

Stadt der tausend Chöre

BERLINER ENSEMBLES (5) In Berlin gibt es mehr als tausend Chöre, doch die Berliner bekommen nur wenige von ihnen zu hören. Angesichts der Vielfalt und Qualität der Ensembles ist das schade

VON TIM CASPAR BOEHME

Singen ist die unmittelbarste Erfahrung von Musik überhaupt. Fast jeder Mensch benutzt die eigene Stimme hin und wieder als Instrument, und sei es zur Begleitung der Körperpflege. Doch gemeinsames Singen oder gar Chorsingen? Diese Form institutionalisierter Klangkörperbildung mit vereinten Stimmbändern erscheint vielen suspekt. Und während Solosänger zu den Stars des Musikbetriebs gehören, ist die Kollektivierung von Gesang nur bedingt marktfähig. Dabei gibt es gerade in Berlin eine Vielzahl von Chören. Weiß nur kaum jemand.

„Berlin hat über tausend Chöre, da fragt man sich: Wo singen die eigentlich immer alle?“ Jörg-Peter Weigle, der als Leiter des Philharmonischen Chors den wohl bedeutendsten Laienchor Berlins betreut, wundert sich über die Kluft zwischen der Menge an Vokalensembles in der Hauptstadt und ihrer allgemeinen Wahrnehmung. „Die Chöre müssen in die Öffentlichkeit drängen“, fordert er. Es genüge nicht, wenn ein Kirchenchor bloß in seiner Gemeinde wahrgenommen werde.

Ausnahme Uraufführung

Allerdings ist nicht jeder Chor in der komfortablen Lage wie Weigles Ensemble, regelmäßig Konzerte in der Philharmonie geben zu können. „Wir haben das unglaubliche Glück, dass wir vom Senat finanzielle Unterstützung erhalten.“ Mit den Förderungsbedingungen hingegen mag sich Weigle nur bedingt anfreunden. Sein Chor, der 2008 sein 125. Jubiläum beging, ist als Oratorienchor darauf ausgelegt, publikumswirksame Werke wie Mendelssohns „Elias“ oder das Weihnachtsoratorium von Johann Sebastian Bach zu Gehör zu bringen. Experimentellere Musik oder gar Uraufführungen sind große Ausnahmen, da sie nicht die vom Senat verlangten Einnahmen bringen. „Damit macht man interessantes Chorsingen kaputt.“ Sein Chor wolle immerhin „Botschafter in Sachen zeitgenössischer Chormusik“ sein.

Der Philharmonische Chor gehört zu den Spitzenensembles Berlins. Weigle hätte daher gern das Geld, um regelmäßig Kompositionsaufträge zu vergeben. Nicht jeder Chor sei in der Lage, einem anspruchsvollen neuen Werk musikalisch gerecht zu werden. „Dass das politisch nicht möglich ist, ist bedauerlich.“

Für Uraufführungen auf Höchstniveau ist in Berlin bis auf weiteres der RIAS Kammerchor zuständig. Wie bei Rundfunkensembles oft üblich, gehört die Pflege der zeitgenössischen Musik und des Repertoires des 20. Jahrhunderts zu einem seiner Schwerpunkte. Werke von Maurizio Kagel, Arvo Pärt oder Krzysztof Penderecki wurden von ihm uraufgeführt. Der im Jahr 1948 gegründete RIAS Kammerchor sticht jedoch unter den Rundfunkchören Deutschlands hervor und gilt international als einer der besten Chöre überhaupt.

Selbst für unaufführbar gehaltene Kompositionen wie Ernst Kreneks „Lamentatio Jeremiae Prophetae“ bewältigte der Chor souverän. Die Einspielung des so schwierigen wie zutiefst spirituellen Werks erhielt mehrere Auszeichnungen. Doch obwohl der RIAS Kammerchor rund 100 Schallplatten produziert hat und einen exzellenten Ruf genießt, ist er im Unterschied zu einer Weltmarke wie den Berliner Philharmonikern vor allem einem interessierten Publikum geläufig, was Chefdirigent Hans-Christoph Rademann bedauert: „Im öffentlichen Bewusstsein spielt die Chormusik keine vergleichbare Rolle, obwohl ein Chor über unendlich viele Klangfarben verfügt.“

Einem weitaus kleineren Hörerkreis dürften die Maulwerker ein Begriff sein. Das achtköpfige Ensemble ist kein Vokalensemble im herkömmlichen Sinn. Vom Komponisten Dieter Schnebel im Jahr 1978 als Studentenensemble gegründet, arbeiten die Maulwerker seit 1993 als professionelles Ensemble im Grenzgebiet von Musik, Theater, Sprache und Raum.

Vokalapparat analysieren

„Unsere ganze Vokalarbeit fußt auf dem Stück ,Maulwerke‘ von Dieter Schnebel, in dem er den Vokalapparat analysiert und zerlegt hat“, so Christian Kesten, der wie seine Mitstreiter einst bei Schnebel studierte. Gemeinsam erkunden sie die Möglichkeiten der menschlichen Stimme als körperliches Instrument. Da der Stimmapparat eine sehr individuelle Angelegenheit ist, bringen die Maulwerker nicht nur speziell für sie geschriebene Kompositionen zur Uraufführung, sondern erarbeiten als „Composer-Performer“ auch eigene Werke.

Im selben Jahr, in dem Schnebel die Maulwerker gründete, rief der Musiker Nuri Karademirli den ersten Berliner Chor für klassische türkische Musik ins Leben. Der Laienchor dürfte einer der exotischsten Chöre Berlins sein, denn die türkische Tonleiter hat nicht zwölf, sondern 24 Intervalle. Karademirlis Chor besteht überwiegend aus Schülern und Studenten des von ihm gegründeten Konservatoriums für türkische Musik Berlin, ist aber für Laien offen. Rund fünfzehn Prozent der Sänger sind mittlerweile deutschstämmig. Karademirli, der als Dozent an der UdK lehrt, legt großen Wert auf Interkulturalität und musikalische Kooperationen, auch mit dem RIAS Kammerchor arbeitete er schon zusammen. Über mangelnde Wahrnehmung seines Chors in der Öffentlichkeit kann er nicht klagen: „Das klappt hervorragend. Man muss nur zusammenkommen.“