: Das Zauberwort heißt Teilhabe
Die Stadt Porto Alegre gilt als Symbol für gelebte Gerechtigkeit. Doch nach dem Scheitern der Demokraten sucht das Sozialforum neue Austragungsorte
AUS PORTO ALEGRE GERHARD DILGER
Diese Stadt hat Routine. Schon zum vierten Mal findet das Weltsozialforum jetzt in Porto Alegre statt. Im Jahr 2000 schlugen die Brasilianer Oded Grajew und Francisco Whitaker dem Journalisten Bernard Cassen von Attac-Frankreich eine Gegenveranstaltung zum Weltwirtschaftsforum in Davos vor. Der Chefredakteur von Le Monde diplomatique war begeistert – und plädierte für Porto Alegre als Tagungsort. Die 1,4-Millionen-Stadt in Südbrasilien galt nämlich als Vorzeigestadt für Basisdemokratie: Im Rahmen des Orçamento Participativo, des Beteiligungshaushalts, bestimmen die EinwohnerInnen der Armenviertel über die Verwendung der knappen Haushaltsgelder mit.
Auf Versammlungen in 16 Bezirken werden jedes Jahr im März die örtlichen Prioritäten festgelegt. Soll eine Krankenstation gebaut werden? Oder ist die Renovierung des Kulturzentrums wichtiger? Parallel dazu beraten Delegierte auf fünf Foren über die Investitionen.
Bis Ende Mai stehen dann in den Bezirken die Prioritäten fest. Wohnraum und Bildung gehören regelmäßig zu den Spitzenreitern, aber auch der Straßenausbau, Wasser- und Abwasserkanäle und Investitionen im Gesundheitsbereich. Bis September erarbeiten die Delegierten detaillierte Investitionspläne, die Stadtverwaltung gibt dabei administrative Hilfestellung. Der Bürgermeister präsentiert die Vorschläge unverändert dem Stadtparlament, das Ende November den Jahreshaushalt verabschiedet.
Durch die direkte Mitbestimmung sind Korruption und Vetternwirtschaft in Porto Alegre deutlich zurückgegangen, wie selbst Kritiker einräumten. Lob kam auch von der Weltbank, Kommunalpolitiker aus aller Welt reisten auf der Suche nach Anregungen an. Den Beteiligungshaushalt entwickelte die von der Arbeiterpartei PT angeführte Stadtregierung 1989. Seither haben sich die Lebensverhältnisse für Zehntausende in den ärmeren Vierteln spürbar verbessert. Für die PT war der Beteiligungshaushalt auch ein Mittel, ihre Anhängerschaft in den Armenvierteln zu mobilisieren, Angehörige der Mittelschicht interessierten sich kaum dafür.
Untersuchungen bescheinigen dem überwiegend von Handel und Dienstleistungen geprägten Porto Alegre eine hohe Lebensqualität. Gäste sind beeindruckt vom sichtbaren Wohlstand, dem Verkehrssystem, dem üppigen Baumbestand in den Wohnvierteln der Mittelschicht. Das überschaubare Zentrum mit seinen Fin-de-Siècle-Gebäuden erinnert eher an Uruguays Hauptstadt Montevideo als an andere brasilianische Metropolen.
Die großen Kontraste zwischen Arm und Reich, die es dennoch in Porto Alegre gibt, erschließen sich erst auf den zweiten Blick: Ein Fünftel der Bevölkerung lebt in oft abgelegenen Armenvierteln, in denen Arbeitslosigkeit und Drogen den Alltag bestimmen.
„Menschenwürdiger Wohnraum ist unser wichtigstes Anliegen“, sagt Marlene Oliveira aus Restinga der taz. Im Beteiligungshaushalt engagiert sich die 48-jährige Hausfrau seit Jahren. 60.000 Einwohner zählt ihr 20 Kilometer vom Zentrum gelegener Stadtteil offiziell, tatsächlich sind es wohl 180.000. Die meisten von ihnen sind in den letzten 20 Jahren nach Restinga gezogen, weil sie sich in der Stadt bessere Arbeitsmöglichkeiten versprachen. Illegal errichtete Bretterbudensiedlungen wachsen schneller, als der soziale Wohnungsbau nachziehen kann. Über 100 im Beteiligungshaushalt beschlossene Projekte wurden seit 1989 umgesetzt, erzählt Marlene Oliveira. Auf 42 Projekte allerdings warten die Einwohner noch. Oliveira macht eine abgehobene Bürokratie und knappe Mittel als Ursachen für die Verzögerungen aus.
Im vergangenen Oktober nun verlor die PT nach 16 Jahren ihre Hochburg Porto Alegre. Der PT-Linke Raul Pont, als leidenschaftlicher Kommunalpolitiker einer der Väter des Beteiligungshaushalts, unterlag dem eher farblosen bürgerlichen Kandidaten José Fogaça. Neben der Enttäuschung über die Regierung Lula waren für die Niederlage vor allem lokale Faktoren ausschlaggebend: die Abnutzungserscheinungen der Stadtverwaltung nach 16 Jahren und eine Stadtplanung, die den Interessen der Baubranche zu weit entgegen kam. Immer mehr Wohnviertel wurden durch Apartmentblocks verhunzt, steigendes Verkehrsaufkommen und eine Überlastung der Infrastruktur waren die Folge. In Restinga und in anderen Stadtrandvierteln gewann der Oppositionskandidat. Die Kluft zwischen den PT-Funktionären und ihrer früheren Basis sei im Lauf der Zeit immer größer geworden, erzählt Marlene Oliveira: „Auch beim Beteiligungshaushalt war zuletzt ziemlich die Luft raus.“
An dem Vorzeigemodell werde er ohne Abstriche festhalten, versichert der seit Jahresbeginn amtierende Fogaça immer wieder. Anders als viele Aktive der Arbeiterpartei nimmt ihm Marlene Oliveira das ab und hofft auf neue Impulse. Aber sie sagt auch: „Wenn es sein muss, kämpfen wir um unser Recht auf Mitbestimmung.“
Für die PT war der knappe Sieg der bürgerlichen Koalition eine kalte Dusche. Manch einer drängt sogar hinter den Kulissen darauf, das Weltsozialforum möge erst unter einer Regierung der Arbeiterpartei wieder nach Porto Alegre kommen. Für die Stadt werfen sich jetzt vor allem konservative Politiker und Geschäftsleute in die Bresche, das brasilianische Organisationskomitee ist in dieser Frage gespalten. Doch unabhängig von der kommunalpolitischen Konstellation wird das wohl dauern. „Viele andere Länder können das Forum ausrichten, natürlich auch andere brasilianische Städte“, sagt Antonio Martins von Attac Brasilien. Das erfolgreiche Forum in Bombay 2004 ist wohl das stärkste Argument für die Suche nach neuen Austragungsorten.