: berliner szenen Traumpost (2)
Roter Traum
Früher waren wir Novizen. Junge Dinger, die den Älteren lauschten, die von Marx sprachen, vom Wert, von Luxemburg und Bucharin, von Gremliza und Kurz, und alles war uns gleich, vereinbar, links. Wir hörten Jutta oder Christian reden, hörten von ausgestandenen Kämpfen und den Schweinen da oben. Linkssein hieß das, schuf Zusammenhalt und fühlte sich gut an.
Manchmal hat man heute noch mit diesem großen Ganzen zu tun, ich zumindest, im Traum. Im Mehringhof, in unserem Büro, ich war eingenickt; nun war da plötzlich ein taz-Fest, in unserem Büro, das jetzt riesengroß war. AutorInnen standen mit RedakteurInnen herum, es wurde Sekt gereicht, es wurden K-Gruppen-Witze gemacht. Irgendwo hinten lief Ströbele herum. Ich wollte ein Bier haben, ging in einen weiteren Raum, dort standen Antideutsche mit türkischen Stalinisten, doch Bier gab es keins. Hinten am Flipper Ebermann mit Cohn-Bendit, dort vorne unterhielten sich Steigerwald und Rabehl, irgendwo wurden die Kalaschnikow und der Freitag verkauft und es gab noch immer kein Bier. Plötzlich stehe ich, überrascht, muss ich sagen, vor Kunzelmann, der gerade mit Salvatore herumscherzt, hinten schreien wackere Freunde Enver Hoxhas, jetzt hat es die Aura von Buchmessen, der Sekt fließt weiter in Strömen, die Revolution wird geplant. Allerorten rote und schwarze Fahnen, Hamburger Genossen kämpfen für den Situationismus, mir wird schwindelig.
Ich wache jedoch auf, bevor ich vom Stuhl falle. Was war das? Ich schaue aus dem Fenster, horche in den Flur – nein, alles ruhig, die Linke ist weiter so zerspalten wie seit 1990. Puh, denke ich, wische mir den Schweiß von der Stirn und bin beruhigt.
JÖRG SUNDERMEIER