piwik no script img

Chance für „Weichziele“

Landminen.de fordert ein deutsches Moratorium für Streumunition. Denn deren Blindgänger wirken wie Minen

AUS BERLIN ANNETTE JENSEN

Von der Form her ähnelt die Streumunition M 77 einem etwas plump geratenen Arzneimittelfläschchen. Wo dort allerdings der Drehverschluss sitzt, hat das Geschoss ein aufgerolltes Stoffband. Sobald es im Wind rotiert, ist der Zünder scharf. Knallt M 77 auf den Boden, fliegt eine pfeilförmiger Kupferstöpsel mit solcher Wucht heraus, dass er eine zentimeterdicke Panzerwand durchschlagen kann. Zeitgleich splittert die von innen perforierte Munitionshülse und tötet oder verletzt alle in der Nähe stehenden „Weichziele“, wie Menschen im Jargon von Waffenherstellern heißen.

23 Millionen Bomblets M 77 hat die Bundeswehr in ihren Depots. Darüber hinaus verfügt sie noch über vier weitere Typen von Streumunition. Zu hunderten oder tausenden verpackt in einer Rakete oder Bombe, die von Fahrzeugen oder Flugzeugen aus abgeworfen werden, können die Geschosse über ein Gebiet von bis zu 250.000 Quadratmeter verteilt werden. So entfalten die Bomblets eine „flächendeckende Wirkung gegen weiche und halbharte Ziele“, wie die Firma Rheinmetall auf ihrer Internetseite für ihr Produkt wirbt.

Gegen die Genfer Konvention

Das Aktionsbündnis Landmine.de setzt sich für die Abschaffung von Streumunition ein. „Die Art und Weise ihres Einsatzes ist wahllos und unkontrolliert. Damit verletzt Streumunition die Genfer Konvention, die eine zuverlässige Unterscheidung zwischen einem militärischen und einem zivilen Ziel vorschreibt“, argumentiert Thomas Küchenmeister, Direktor der NGO. Hinzu käme, dass viele Geschosse nicht sofort explodieren, etwa weil sie in einem Baum hängen bleiben oder im Morast landen. „Dann stellen sie auch lange nach der Kampfhandlung noch eine Gefahr dar und wirken wie Minen.“ Somit verstießen sie im Prinzip auch gegen den Ottawa-Vertrag von 1998, der Herstellung, Lagerung und Einsatz von Antipersonenminen verbietet.

Die konkreten Folgen von Streumunitionseinsätzen lassen sich im Kosovo studieren: Dort hat die Nato 1999 nach eigenen Angaben Bomben mit knapp 300.000 Stück Streumunition eingesetzt. Besonders tragisch war der Angriff am 7. Mai, bei dem eine Streubombe den Militärflughafen bei Nis verfehlte und stattdessen den Marktplatz und ein Krankenhaus traf. 15 Menschen starben, über 60 wurden verletzt.

Human Rights Watch schätzt, dass insgesamt 150 Zivilisten im Kosovo unmittelbar durch den Einsatz von Streumunition ums Leben kamen. Doch auch als der Krieg Mitte 1999 zu Ende war, ging das Sterben weiter. Allein im ersten Jahr töteten Streumunitions-Blindgänger mindestens 50 Menschen, die meisten von ihnen Kinder. Das Rote Kreuz geht davon aus, dass zum Beispiel die im Kosovo eingesetzte Streubombe BL 755, die auch die Bundeswehr in ihrem Arsenal hat, eine Fehlerquote von 20 Prozent aufweist. Bei der M 77 sieht die Bilanz sogar noch schlechter aus. Und selbst die Nato vermutet, dass im Kosovo etwa jedes zehnte Geschoss bei seinem Aufprall nicht explodiert ist.

Die Bundesregierung setzt offiziell auf technische Abhilfe und erklärt, im Rahmen des Waffenübereinkommens der Vereinten Nationen eine „Blindgängerrate von vorzugsweise unter einem Prozent“ durchsetzen zu wollen. Möglichst viel Streumunition soll deshalb mit einem Selbstzerstörungsmechanismus ausgestattet sein, der nicht explodierte Munition etwa 15 Sekunden nach ihrer Landung sprengt.

Doch die Realität auch in den Bundeswehrdepots sieht anders aus, wie das Verteidigungsministerium in einem internen Papier vom Herbst 2004, das der taz vorliegt, selbst zugibt. So haben Bomben vom Typ BL 755, von denen die Luftwaffe mehrere tausend mit insgesamt 672.200 Stück Streumunition besitzt, keine zweite Sicherung. Das gleiche gilt für die MLRS-Raketen des Heeres, das zahlenmäßig größte Streuwaffenarsenal der Bundeswehr. „Für die MLRS-Raketen gibt es zur Zeit noch keine geeigneten Selbstzerlegungsvorrichtungen“, räumt das Papier offen ein.

Heute wird das Aktionsbündnis Landmine.de den Bundestagsabgeordneten im Unterausschuss Abrüstung eine Resolution vorschlagen. Sie sieht vor, dass bis zur Verabschiedung eines internationalen Abkommens ein „sofortiges Moratorium für die Verwendung, Lagerung, Herstellung, Verbringung und Ausfuhr von Streumunition“ gelten soll. Mit einem solchen Entschluss stünden die deutschen Abgeordneten keineswegs alleine da: Das Europaparlament hatte genau diese Forderung Ende Oktober 2004 verabschiedet.

„Keine Mehrheit erkennbar“

Doch ein Heimspiel wird das nicht. Denn das Verteidigungsministerium vertritt in seinem Papier eine klare Position: „Die Notwendigkeit für die Teilnahme der Bundeswehr an multinationalen Operationen kann … das ganze Einsatzspektrum bis hin zu Operationen mit hoher Intensität umfassen. Dies schließt den Einsatz gegen Flächenziele ein. Von daher kann die Bundeswehr zur Zeit auf die Möglichkeit eines Einsatzes von Streumunition nicht verzichten.“

Auch die grüne Staatsministerin im Auswärtigen Amt, Kerstin Müller, hat sich gegen ein deutsches Verbot gewandt. Im September schrieb sie in einem Brief an die PDS-Bundestagsabgeordnete Gesine Lötzsch: „Das Ziel eines Verbots einer ganzen Waffenkategorie, wie z. B. Streumunition, ist nur dann realistisch, wenn dieses von einem überwiegenden Teil der Staatengemeinschaft akzeptiert wird (…). Derzeit ist leider keine Mehrheit der Staatengemeinschaft erkennbar.“ Dieses Argument überzeugt Thomas Küchenmeister allerdings nicht. „Ein Verbot darf sich nicht nur daran orientieren, ob es international durchsetzbar ist, sondern muss die humanitären Konsequenzen eines Einsatzes ins Zentrum stellen.“

Dass ein Alleingang durchaus möglich ist, hat ausgerechnet die Kohl-Regierung 1996 vorgemacht. Damals erklärte sie einen einseitigen Verzicht auf Antipersonenminen. Engagiert war vor allem FDP-Außenminister Klaus Kinkel. Später erwies sich der deutsche Beschluss als ein entscheidender Schritt auf dem Weg zum internationalen Verbot von Antipersonenminen, der 1998 in Ottawa besiegelt wurde.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen