Ausbruch aus der Geiselhaft

Die Staatengemeinschaft Serbien-Montenegro funktioniert nicht. In beiden Republiken mehren sich jetzt die Stimmen für eine Trennung. Das würde auch die Frage nach dem Status des Kosovo wieder aufwerfen. Noch hat die EU keine passende Strategie

AUS BELGRAD ANDREJ IVANJI

Im letzten Augenblick sagte der EU-Außen- und Sicherheitsbeauftragte Javier Solana vergangene Woche seinen Besuch in Belgrad ab. Als einer der Schöpfer der Staatengemeinschaft Serbien und Montenegro (SCG) hätte Solana abermals zwischen den zwei zerstrittenen Teilrepubliken vermitteln sollen. Eine offizielle Begründung für die unkonventionelle Absage gab es nicht. Inoffiziell hieß es, die Fronten zwischen Belgrad und Podgorica seien so verhärtet, dass Solana erst einmal „die Nase voll hatte“. Außerdem bezeichnete ihn ein serbischer Minister als „inkompetenten“ Politiker.

Vorerst sich selbst überlassen, steht die unter dem Druck der EU entstandene Staatengemeinschaft vor einer neuen Zerreißprobe. Die für Anfang Februar angesetzten Wahlen zum Bundesparlament werden nicht stattfinden, weil sich die zwei Landesregierungen nicht auf das Wahlmodell einigen können. Belgrad besteht auf Direktwahlen und verweist auf die „Verfassungsurkunde“ der Staatengemeinschaft. Podgorica will, dass die Abgeordneten im Bundesparlament von den Landesparlamenten bestimmt werden.

So oder gar nicht, entschied Milo Djukanović, Montenegros Premier und heftigster Befürworter der Selbständigkeit der kleinen Adriarepublik. Montenegro habe sich verpflichtet, mit dem Referendum über die Unabhängigkeit bis 2006 zu warten. Sollte die Staatengemeinschaft danach noch bestehen, könnten Bundeswahlen ausgeschrieben werden. Montenegro werde jedoch noch vor diesem Datum versuchen, die EU und die USA von der Notwendigkeit der „Umwandlung“ der Staatengemeinschaft in einen „Bund unabhängiger Staaten“ zu überzeugen.

Montenegro sei „keine Provinz Serbiens“ und wolle nicht länger die „Geisel der serbischen Isolationspolitik“ sein. Deren Ursache sei vor allem, dass dort vermeintliche Kriegsverbrecher nicht verhaftet und dem UNO-Tribunal in Den Haag ausgeliefert, sondern als nationale Helden gefeiert werden. Morgen will Djukanović eine „Bewegung für ein unabhängiges Montenegro“ gründen, die alle sezessionistischen Kräfte vereinigen soll.

Doch auch in Serbien werden die Stimmen immer lauter, die eine „friedliche Trennung“ Serbiens und Montenegros fordern. Während sich der nationalkonservative Regierungschef Vojislav Koštunica erbittert für das Fortbestehen der Staatengemeinschaft einsetzt, befürwortet Vizepremier Miroljub Labus lauthals die Unabhängigkeit Serbiens. Das zehnmal größere Serbien sei eine „Geisel“ des in der Staatengemeinschaft gleichberechtigten kleinen Montenegro, und nicht umgekehrt, meint die regierende Partei „G 17“. Das „groteske“ Staatsmodell sei weder eine Föderation noch eine Konföderation, sondern ein Kompromiss, ein „Experiment“ gewesen, das sich als funktionsunfähig erwiesen habe. Anstatt zusammenzuwachsen, werde die Kluft größer.

In der Tat: Serbien und Montenegro jeweils mit eigener Außenpolitik haben verschiedene Währungen, ein getrenntes Zoll- und Banksystem sowie Bildungs- und Gesundheitswesen. Es gibt keinen freien Warenverkehr, die Grenzen zwischen den Teilrepubliken werden scharf kontrolliert. Belgrad trägt allein die Kosten der Staatengemeinschaft, im Rahmen der formal gemeinsamen Diplomatie werben Botschafter aus Montenegro offen für die Sezession ihres Landes. Die Streitkräfte stehen faktisch unter dem Oberbefehl Belgrads. Die montenegrinische orthodoxe Kirche erkennt die Autorität des serbisch-orthodoxen Patriarchen nicht mehr an; sogar die gemeinsame Sprache wird jetzt in Serbisch und Montenegrinisch geteilt.

Beobachter meinen, dass die EU keine Strategie für den bevorstehenden Zerfall der Staatengemeinschaft ausgearbeitet hat. Aufgrund der UNO-Resolution ist das Kosovo als Bestandteil der SCG und nicht Serbiens definiert. Der Zerfall der Staatengemeinschaft würde automatisch zur Unabhängigkeit der zu neunzig Prozent von Albanern bewohnten Provinz führen. Neue Grenzziehungen auf dem Balkan sind nicht mehr aufzuhalten.