: UNSÄGLICHE TUMULTE
VON DIETRICH ZUR NEDDEN
Wir fahrn, fahrn, fahrn mit der Eisenbahn … doch Anekdoten, die im ICE spielen, lösen gewöhnlich nach den ersten Sätzen ein Gähnen aus: Reisende – du und ich ausgenommen – enthüllen Privates am Telefon oder Laptop, die öffentliche Sphäre missachtend.
Den inflationär erzählten Erlebnissen zum Trotz starten wir eine Bahnfahrt von Hamburg nach Saarbrücken. Warum ausgerechnet diese Strecke, weiß ich jetzt nicht. Entgegen der Gewohnheit, das Notebook zu Hause zu lassen, habe ich es diesmal eingepackt. Weshalb? Der Grund dafür schleicht geschwind ins Bewusstsein. Etwas drängt mich zu Notizen. Die Idee für eine Horrorstory möchte sich äußern, Schauderhaftes, wie es scheint, muss unverzüglich raus. Besser ist das manchmal, wie Lars von Trier neulich versicherte, nachdem schockierende Szenen in seinem Film „Antichrist“ bei der Premiere in Cannes Verwirrung gestiftet haben.
Inzwischen habe ich den letzten freien Platz an einem Tisch ergattert, baue das Notebook auf und setze es in Betrieb. So weit, so simpel. Erst als der Bildschirm aufleuchtet, entsinne ich mich, welches Motiv ich in launiger Unbeschwertheit kürzlich als lückenlosen Hintergrund des Desktops geladen habe: „Der Ursprung der Welt“, ein Gemälde von Gustave Courbet aus dem Jahre 1866. Hört sich zunächst bieder an. Hohe Kunst, immerhin ist das Bild mit den Maßen 46 auf 55 Zentimeter seit gut zehn Jahren im Pariser Musée d’Orsay zu besichtigen.
Im Auftrag eines türkischen Diplomaten stellte Courbet den „Ursprung der Welt“ dar in Gestalt eines schräg gelagerten weiblichen Torsos mit weit geöffneten Schenkeln, die „das Unsägliche in aller Deutlichkeit preisgeben“, wie es ein Kunstwissenschaftler formulierte. Als nun die Rentnerin neben mir den „Ursprung der Welt“ in aller Deutlichkeit gewahrte, schnappte sie vor Entrüstung nach Luft.
Mir gefällt diese prachtvolle Malerei gewiss nicht allein, aber in erster Linie wegen der Stimmigkeit von Wort und Bild. Bukowski wäre das vermutlich ähnlich ergangen. Die Rentnerin jaulte stammelnd, erwartete Beistand, und tatsächlich, da der Aufgeregtheit halber mir missglückte, das Bild zu tilgen, nahmen einige Passagiere das inkriminierte Motiv in Augenschein. Die Offenbarung erschuf Tumulte. Truth is stranger than fiction, also erspähte ich den Roman, in dem die Kurzhaarige schräg gegenüber las, vielmehr den Titel, den sie bislang verborgen hatte. Schamhaft oder um Scherereien zu vermeiden? Egal. Das Buch heißt „Bitterfotze“. Da Buchtitel häufiger als Bücher die Welt verändern, haben sich seit dem Erscheinen dieses Romans zur Gleichberechtigungsdebatte die Tabuzonen wenigstens im Feuilleton, äh, verschoben. Andererseits: In Feuilletons wird „Bitterfotze“ rezensiert, Courbets Bild zur Betrachtung auf den Kulturseiten? Nicht zu sehen, soweit ich weiß.
Die Episode auf Schienen endete im Übrigen friedlich, der Kunstwissenschaft sei Dank. Und von Saarbrücken aus werde ich dann weiter nach Paris fahren. Der Erotik wegen.