: Opferrente: ein allzu später Sieg
NATIONALSOZIALISMUS Bundessozialgericht legt für Ghetto-ArbeiterInnen einen gerechteren Weg zur Rentenanrechnung fest – eine Korrektur der bürokratischen Praxis
AUS BERLIN CHRISTIAN SEMLER
Erfreuliches aus Kassel, dem Sitz des Bundessozialgerichts. Am Dienstag hat dessen 13. Senat ein Urteil zugunsten dreier über 80-jähriger KlägerInnen gefällt, nach dem es für alle hochbetagten jüdischen Menschen, die im Ghetto für die deutschen Besatzer geschuftet haben, leichter wird, für diese Zeit Rentenzahlungen einzufordern.
2002 glaubte der Bundestag, mittels eines Gesetzes ein Instrument für die Anrechnung der „Ghetto-Bezugszeiten“ gefunden zu haben. In dem Gesetz fanden sich jedoch zwei Klauseln, die es möglich machten, dass fast alle der 70.000 Anträge auf Rentenanrechnung abgelehnt wurden. Die Ghettobewohner mussten „aus eigenem Willensentschluss“ ein Arbeitsverhältnis eingegangen sein und für ihre Arbeit musste „Entgelt“ gezahlt worden sein. Diese Bestimmungen wurden von den Verwaltungsinstanzen restriktiv ausgelegt. So wurde in der Regel ein Arbeitsverhältnis verneint. Angenommen wurde, dass es sich um Zwangsarbeit handelte, und damit ein Rentenanspruch verworfen.
Wissenschaftler wiesen in der Folgezeit darauf hin, dass es trotz der generellen Zwangssituation des Ghettos sehr wohl solche Beschäftigungsverhältnisse gegeben hatte und dass der Lohn häufig auch in Naturalien bestand. Das Münchener Institut für Zeitgeschichte widmete diesem Thema 2008 eine Konferenz, in der auch die Unwissenheit der Behörden hinsichtlich der Lebenssituation der Ghetto-„Insassen“ beklagt wurde. Als fatal erwies sich, dass die Sozialgerichte bei der „Ghetto-Rente“ zu diametral unterschiedlichen Ergebnissen kamen. So gelangten die heute in den USA und Israel lebenden Kläger leichter zu einem positiven Urteil als die aus Osteuropa.
Der 13. Senat hat nun entschieden, dass ein eigener Willensentschluss auch dann anzunehmen ist, wenn im Ghetto generell Arbeitspflicht bestand. Auch sah das Gericht eine allgemeine Arbeitsvermittlung durch den Judenrat als hinreichend für die Existenz eines Arbeitsvertrags an. Als Entgelt gilt laut Urteil jede Form der Entlohnung. Geringfügigkeitsgrenzen sind nicht zu prüfen, womit der Ablehnungsgrund wegfällt, der Lohn hätte zum Leben nicht ausgereicht. Auch muss der Lohn dem Ghetto-Arbeiter nicht unmittelbar zugute gekommen sein. Eine Überweisung an den Judenrat des Ghettos wird als hinreichend erachtet. Schließlich gilt für die Annahme eines Beschäftigungsverhältnisses kein Mindestalter, wie das unter „normalen“ Verhältnissen zivilrechtlich vorgeschrieben ist. Das Urteil schafft Klarheit – auch gegenüber der bisherigen, wenig einfühlsamen Praxis der deutschen Behörden.