Bob Dylan kotzt auf Zinnsoldaten

Die Abgründe von Peter Pan: Rodrigo Fresáns funkenloser Roman „Kensington Gardens“

Die „Lost boys“ haben nichts mehr zu verlieren. Die Jungs aus Peter Pans Bande sind keine romantischen Abenteurer, sondern Waisen, die als Säuglinge aus dem Kinderwagen „gefallen“ sind. Weil niemand sie vermisst, kommen sie nach „Niemalsland“. In der Geschichte von Peter Pan verbirgt sich hinter dem Zauber der Fantasie eine grausame Realität. Kindheit ist hier kein unschuldiges Paradies, sie ist ein Trauma von Einsamkeit und Schuld.

In Rodrigo Fresáns Roman „Kensington Gardens“ ist es dieses Trauma, das seinen Romanhelden mit Peter Pan verbindet. In einer einzigen, märchenhaft verklärten Nacht lässt der argentinische Autor, der zu den wichtigsten Gegenwartsschriftstellern Lateinamerikas gehört, einen jungen Kinderbuchautor mit dem passenden Namen Peter Hook seine rätselhafte Lebensgeschichte erzählen. In seiner Einsamkeit und Todessehnsucht fühlt sich Hook dem Erfinder von Peter Pan, James Matthew Barrie, und seiner Romanfigur seelenverwandt. Vordergründig hat er nichts gemein mit dem hundert Jahre vor ihm geborenen exzentrischen Schriftsteller, der mit 1,50 Meter Größe schon äußerlich seinem Helden, „dem einzigen Menschen, der nie erwachsen wird“, nahe kam und sich zeitlebens unter Knaben am wohlsten fühlte. Hook dagegen wird in den „Swinging Sixties“ als Sohn eines extravaganten Künstlerpaares geboren und erlebt die wilden Partys im Haus seiner sich um ihn nur wenig scherenden Eltern mit.

Doch nicht nur in der Rolle als vernachlässigtes Kind entdeckt Hook eine Parallele zu Barries Figuren. Wie der echte Barrie verlor er in seiner Kindheit auf rätselhafte Weise seinen Bruder. In dem Schuldgefühl, statt des von der Mutter abgöttisch geliebten Bruders überlebt zu haben, sieht Hook das Motiv für die Entscheidung beider Autoren, lebenslang in der Kinderwelt zu bleiben. Die Lebensbeichte seiner Romanfigur verbindet Fresán mit der realen Biografie Barries, er lässt Hook in vielen Details historisch überlieferte Tatsachen über den viktorianischen Schriftsteller berichten. Etwa über dessen Beziehung zu den geliebten fünf Söhnen des Ehepaares Llewelyn Davies, nach denen Barrie Peter Pan und seine Bande gestaltet hat. Er spielt mit den Jungs, erzählt ihnen Geschichten und pflegt zu ihnen eine enge Beziehung, die manch Bekannter als verhängnisvoll ansieht und bis heute Anlass zu verschiedensten Spekulationen bietet.

Fresán verwebt die Erzählungen zu einer verschachtelten Scharade, die den Leser durch einen Irrgarten führt, bestehend aus Hooks Erinnerungen, Fantasien und langen Betrachtungen über Literatur, Philosophie und Sechzigerjahre-Zeitgeist bis hin zur Popkultur. Diese Reflexionswut tut dem Buch nicht unbedingt gut, die seitenlangen Gedankenspielereien gipfeln häufig in recht altklugen Lebensweisheiten und sind streckenweise quälend langatmig. Eher gewollt als gelungen ist auch die Fresáns Konstruktion, mit der er seinen Helden neben seiner Seelenverwandtschaft zu Barrie eine Verbindung zwischen dem viktorianischen England und den Swinging Sixties, den „beiden Goldenen Zeitaltern“, entdecken lässt – eine Lieblingsidee Fresáns, der einmal gesagt hat, die Darstellung dieser Jahre sei eine Art von satirischer Hommage an seine kosmopolitisch gesinnten Eltern. Doch Fresáns Celebrity- und Partywelt der Sechzigerjahre ist eher ein bemühtes, viel zu dick aufgetragenes Retro-Panoptikum als eine gelungene Parodie. Dass Bob Dylan auf Hooks Zinnsoldaten gekotzt hat, nachdem er statt des Badezimmers das Kinderzimmer erwischt hat, und Stanley Kubrick nachts mit ihm über fremde Planeten geredet hat, ist zwar hübsch, aber wohl kaum ein Kindheitstrauma.

Fresáns Erzählkunst zeigt sich vor allem da, wo er gekonnt die Welt des verschrobenen Barrie, der wie ein literarisches Monster Freunde, Ehefrau und die Kinder als unerschöpfliches Stoffreservoir missbraucht hat, Revue passieren lässt. Zur Entstehung seines Helden schrieb Barrie, Peter Pan sei der Funke, der entstand, als er seine fünf Jungs wie Feuerstöcke aneinander gerieben habe. Fresán versucht eine fantastische Bilderwelt zu erzeugen, indem er Barrie und seinen Helden Peter Hook aneinander reibt, doch sprühen die Funken nur allzu selten. CHRISTIAN BERNDT

Rodrigo Fresán: „Kensington Gardens“. Aus dem Spanischen von Matthias Strobel. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2004, 460 Seiten, 24,90 Euro