Aus dem Fenster

Siegergeschichten aus dem von Wladimir Kaminer initiierten Schreibwettbewerb für Schüler, Teil IV und Schluss. Das Thema von „Kaminer sucht den Superautor“: Heimat

VON SOPHIA JOCHEM

Mein Zimmer im Haus meiner Eltern war ein Zimmer ohne Sonne. Denn mein Fenster war an der Seite des Hauses, auf die nie die Sonne schien. Und obwohl ich schon ein paar Jahre nicht mehr in meinem alten Zimmer wohne, weiß ich genau, dass es immer noch ein Zimmer ohne Sonne ist, ja die Sonne hat es in all den Jahren nicht geschafft, auch nur ein einziges Mal durch mein altes Fenster zu scheinen. Auch wenn ich mir damals ein Zimmer mit Sonne wünschte, bin ich im Nachhinein doch froh darüber, dass es ein Zimmer ohne Sonne war. Denn wenn ich nachmittags aus dem Fenster aufs Dach kletterte, dann konnte ich dort ganz ausgezeichnet sitzen, und auch wenn man kurze Hosen trug, verbrannte man sich nie die Beine auf den schwarzen Ziegeln oder bekam einen Sonnenbrand. Dort auf dem Dach sitzend hatte ich eine gute Aussicht auf unseren Garten und das Mehrfamilienhaus hinter dem Haus meiner Eltern. Seiner unbeschreiblichen Hässlichkeit zum Trotz wünschte ich mir immer, in dem Haus zu leben, noch sehnlicher als in einem Zimmer mit Sonne. Denn in dem Haus hatte jede Wohnung einen Balkon. Und ich liebte Balkone über alles. Ich glaube, hätte mir jemand angeboten, unser wunderschönes, großes, idyllisches Reihenhaus gegen eine Wohnung in dem hässlichen Haus zu tauschen, ich hätte sofort angenommen.

Ich sah gerne den Leuten auf ihren Balkonen zu. Anfangs saß ich noch ganz friedlich auf dem Dach und schaute den glücklichen Kindern beim Spielen, den etwas zu dicken Frauen beim Sonnen oder den Männern beim Arbeiten zu, mir stets ausmalend, wie es wäre, selbst einen Balkon zu haben. Doch mit den Jahren wurden meine Augen schlechter und ich bekam Kopfschmerzen, wenn ich den Leuten auf den Balkonen zusah.

Es war zu der Zeit, als meine Eltern oft zusammen in die Oper gingen. Einmal, als sie „Die Liebe zu den drei Orangen“ gesehen hatten, brachte meine Mutter ein Opernglas mit nach Hause, und weil sich meine Geschwister, die beide älter sind als ich, nicht mehr für Operngläser oder sonstige Ferngläser interessierten, bekam ich es. Ich war entzückt über die Genauigkeit, mit der ich jetzt den Leuten auf den Balkonen zuschauen konnte. Doch eigentlich schaute ich ihnen gar nicht mehr friedlich zu, ich beobachtete sie vielmehr. Und die Leute auf den Balkonen hatten keine Chance, es zu bemerken, denn sie wurden von der Sonne geblendet, wenn sie zu unserem Haus hinübersahen.

In der Wohnung im zweiten Stock rechts lebte einmal ein Herr, der hieß Wassja Kopp. Ich fand den Namen Wassja Kopp immer sehr schön, aber Wassja Kopp mochte seinen Namen nicht. Denn wenn er von jemandem angerufen wurde und sich mit Wassja Kopp meldete, verstand der, der ihn anrief, oft „Was, Jakob?“ und sagte dann sehr eingeschnappt und unfreundlich: „Nein, hier ist nicht Jakob!“ Und wenn es jemand Fremdes war, der anrief, dann war er oft noch das ganze Telefongespräch lang böse und unfreundlich. Doch Wassja Kopp war der freundlichste Mann der Welt, er konnte keiner Seele etwas zuleide tun und war stets zu allen Menschen nett, auch wenn keiner von ihnen nett zu ihm war. Und Wassja Kopp war nicht nur der freundlichste, er war auch der größte Mensch auf der Welt, und er hörte nicht auf zu wachsen. Als ich das letzte Mal, bevor ich bei meinen Eltern auszog, auf dem Dach saß und Wassja Kopp beobachtete, da war er gerade 2 Meter und 74 Zentimeter groß.

Als er zwölf gewesen war, war Wassja Kopp am Gehirn operiert worden. Es war wohl irgendetwas schief gegangen bei der Operation, denn seitdem hatte er nicht aufgehört zu wachsen. Und Wassja Kopp war jetzt bald 36 Jahre alt. Er hatte die Wohnung gemietet, weil sie einen Balkon hatte, denn in normalen Räumen konnte Wassja Kopp nicht stehen, aber über einem Balkon im zweiten Stock, in einem Haus, das nur drei Etagen hat, da gibt es keine Decke mehr, an die er stoßen kann. Wassja Kopp verbrachte fast den ganzen Tag auf seinem Balkon. Er hatte zwar keinen Liegestuhl, weil es in seiner Größe keine Liegestühle gibt, aber er hatte sich eine große Bank bauen lassen, auf der er sitzen konnte. Doch meistens, wenn ich ihn beobachtete, stand er, weil er ja in seiner Wohnung nicht stehen konnte. Und dann war er sehr froh, dass er einen Platz gefunden hatte, an dem er stehen konnte, ohne sich bücken zu müssen. Ja, Wassja Kopp hatte beschlossen, für immer in dieser Wohnung zu leben.

Natürlich hätte er auch raus auf die Straße gehen können, um zu stehen oder ein paar Schritte zu gehen, aber Wassja Kopp hatte zwei gute Gründe, warum er nicht gern auf die Straße ging. Denn Wassja Kopp hatte keine Schuhe. Sein letztes Paar Schuhe hatte er mit 22 getragen, es war ein Paar in Größe 54 gewesen, das ihm ein alter Schuhmacher gemacht hatte. Aber der Schuhmacher war gestorben und Wassja Kopp hatte niemanden gefunden, der ihm ein Paar Schuhe Größe 76 hätte verkaufen können. Natürlich wäre das Schuhproblem kein Problem gewesen, das Wassja Kopp veranlasst hätte, nicht raus auf die Straße zu gehen, wenn er nicht musste. Er verließ auch dann und wann einmal seine Wohnung mit Balkon, um etwas einzukaufen oder einen Brief zum Briefkasten zu bringen, doch er tat es nur sehr ungern, denn die Leute auf der Straße waren oft unfreundlich und gemein zu ihm, weil er so groß war. Nur die wenigsten hatten Angst vor ihm, die meisten Leute starrten ihn einfach an oder ärgerten ihn; es gab sogar Leute, die sich mit Wassja Kopp schlagen wollten, um zu beweisen, dass sie stärker seien als er, auch wenn sie es nicht waren. Und wenn einmal ein kleines Kind kam, um ihn anzusehen oder ihn etwas zu fragen, meistens warum er keine Schuhe hatte, dann kamen schnell die Eltern, um das Kind wegzuholen. Ja, Wassja Kopp hatte nie jemanden getroffen, der nett zu ihm gewesen war. Und für jemanden, der der netteste und freundlichste Mensch auf der Welt ist, ist es sehr schwer, wenn niemand auf der Welt nett zu ihm ist.

Heute kann ich nur noch eins über Wassja Kopp sagen. Denn auch wenn ich ihn schon ein paar Jahre lang nicht mehr zu Gesicht bekommen habe, den größten und nettesten Menschen auf der ganzen Welt, weiß ich doch ganz genau, dass Wassja Kopp sich eines Tages auf seinem Balkon auf die Zehenspitzen gestellt, sich ein wenig gereckt und gestreckt hat und dann über das schiefe Dach des Hauses, das hinter dem Haus meiner Eltern steht, in den wunderbaren rotblauen Abendhimmel geschaut hat, dem er immer ein Stück näher sein wird als wir anderen.

In der Wohnung im ersten Stock links lebte ein Großwildjäger mit einer Greenpeace-Aktivistin. Sie hießen Harald und Gerlinde Meiler und gingen einmal im Jahr auf Safari in Afrika. Zumindest erzählten sie das ihren Freunden, wenn sie wegfuhren, aber eigentlich ging nur der Großwildjäger auf Safari, weil seine Frau nun mal Greenpeace-Aktivistin war und Greenpeace-Aktivistinnen eigentlich sehr selten auf Safari gehen, was wohl an ihrem Dasein als Greenpeace-Aktivistinnen liegt. So kam es, dass die Greenpeace-Aktivistin jedes Mal, wenn der Großwildjäger für zwei Wochen auf Safari ging, nach Japan flog und dort ein paar Wale rettete. Sie war schon immer eine gute Schwimmerin gewesen und liebte den Nervenkitzel, wenn sie von einem Hubschrauber ins Meer sprang und fast von einem riesigen Walfangschiff überfahren wurde, genauso, wie der Großwildjäger es liebte, einem riesigen gefräßigen Löwen gegenüberzustehen. Es ist wirklich ein Wunder, dass diesen zwei die Gefahr liebenden Menschen nie etwas zustieß, solange ich sie beobachtete. Sie mussten wirklich großes Glück haben. Und wenn dann der Großwildjäger und die Greenpeace-Aktivistin aus ihrem Urlaub zurückkehrten und wieder ihr ganz normales Eheleben aufnahmen, dann hängte der Großwildjäger ein neues Geweih oder den ausgestopften Kopf irgendeines Tieres an die Wand des Balkons, damit auch ja jeder sah, was für ein toller Großwildjäger er war. Das Einzige, was ihm noch fehlte, war ein Elefantenhaupt, doch das hätte wahrscheinlich auch gar nicht auf den Balkon gepasst.

Natürlich fragt man sich bei einem so ungleichen Paar, wie beide einander kennen gelernt haben. Nun, es mag zwar etwas abwegig erscheinen, doch eigentlich war es recht einfach. Zu Beginn ihrer Greenpeace-Karriere hatte die Greenpeace-Aktivistin zwar gewusst, dass sie bedrohte Tiere retten wollte, doch welche genau, darüber war sie sich noch nicht so ganz im Klaren gewesen. Sie hatte also erst einmal verschiedene Einsatzgebiete ausprobieren müssen, bis sie dann schließlich ihre Berufung als Walretterin gefunden hatte. So kam es, dass sie in ihrem dritten aktiven Jahr nach Afrika flog, um die Ausrottung des Afrikanischen Elefanten zu verhindern. Und auch der Großwildjäger, der schon ein bisschen länger Großwildjäger war, befand sich zu dieser Zeit in Afrika, auf der Jagd nach einer der größten Trophäen für einen Großwildjäger, dem Haupt eines Afrikanischen Elefanten. Doch als er und sein Freund Ludwig, der ebenfalls Großwildjäger war, gerade einer Gruppe Elefanten aufgelauert hatten, da sprang ihnen eine wunderschöne und wohl proportionierte Frau in engen, wirklich sehr kurzen Hosen, und einem Hemd, das bis zur Brust geöffnet war (man hätte es auch nur mit Mühe schließen können) genau in die Schusslinie und verscheuchte die Elefanten. Der Großwildjäger, der plötzlich einer wunderschönen Frau in den Ausschnitt zielte, verliebte sich sofort in sie und nahm sie mit auf sein Hotelzimmer, wo sich herausstellte, dass die leicht bekleidete Frau eine Greenpeace-Aktivistin auf der Suche nach ihrer Berufung war.

Der Großwildjäger und die geile Greenpeace-Aktivistin bestiegen schon am nächsten Morgen ein Flugzeug zurück nach Deutschland, wo sie bereits nach wenigen Wochen heirateten und in die Wohnung im ersten Stock links in dem Haus, das hinter dem Haus meiner Eltern steht, zogen. Es hatte nur eine Bedingung gegeben: Der Großwildjäger durfte keinem Elefanten etwas zuleide tun. Und natürlich auch keinem Wal.

Schon bald wurde die Greenpeace-Aktivistin schwanger, und sie bekamen eine Tochter. Ihr Name war ursprünglich Yasmin, doch an ihrem dritten Geburtstag bekam sie einen neuen Namen, der da lautete Leonie, nach dem Löwen Leo. Denn zur Feier ihres dritten Geburtstags waren der Großwildjäger und die Greenpeace-Aktivistin mit Yasmin in den Zoo gefahren, natürlich keiner von beiden ohne die Hoffnung, die gemeinsame Tochter vom jeweiligen Hobby überzeugen zu können. Man hatte ihr gerade ein Eis gekauft, und nun stand die kleine Yasmin vor dem Pinguingehege, als auf einmal eine blecherne Stimme aus den Zoolautsprechern dröhnte, der Löwe Leo sei aus seinem Käfig ausgebrochen und alle Besucher sollten so schnell wie irgend möglich in Richtung Hauptausgang flüchten.

Der Großwildjäger jedoch rannte los, den Löwen zu erlegen, und die Greenpeace-Aktivistin ihm hinterher, den Löwen vor ihrem Gatten zu beschützen. Und in all dem Aufruhr vergaßen sie die kleine Yasmin, die ganz unbeeindruckt von dem ganzen Trubel um sie herum noch immer Eis essend am Pinguingehege stand. Doch der Großwildjäger hatte kein Glück, er fand den Löwen Leo nicht. Dafür fand der Löwe Leo aber die kleine Yasmin und biss ihr kurzerhand einen kleinen Fuß ab, um anschließend an dem kleinen Schuh zu ersticken. Durch ihr Geschrei fand man die kleine Yasmin schnell und konnte sie ins Krankenhaus bringen, doch der Fuß war ein für alle Mal verloren. Seit diesem Tag wird die kleine Yasmin Leonie genannt, nach dem Löwen Leo, und es hängt allein das Haupt eines Löwen auf dem Balkon der Familie Meiler.

SOPHIA JOCHEM, 17, besucht das Bettina-von-Arnim-Gymnasium in Dormagen. Ihre fulminante Geschichte ist eigentlich viel länger – zu lang für den Abdruck aller ihrer Episoden im taz.mag und für den „Superautor“-Wettbewerb. Die unbürokratische Jury verlieh der Autorin flugs einen Sonderpreis