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Archiv-Artikel

Per aspera ad taz

Was sind das nur für Leute, die Zeitungen klauen?

Es ist jeden Tag dasselbe: Wenn ich mit schlafverklebten, geschwollenen Augen die Hand auf die Klinke der Haustür lege, gewandet in diesen alten, blau-weiß gestreiften Frottee-Bademantel, der meine Figur so unvorteilhaft betont und dessen Gürtel ich wie eine Zündschnur hinter mir durch den Hausstaub ziehe, quälen mich die ewig gleichen, existentiell bohrenden Fragen: Wird sie da sein? Wird sie liegend auf mich warten, bereit, mir zu Diensten zu sein, eine willige Gefährtin bei dem Versuch, meine frühmorgendliche Sehnsucht nach Erkenntnis zu befriedigen? Oder wird mein Blick ungehindert auf die aus alten Autoreifen recycelte Fußmatte fallen?

Wenn ich morgens meine Zeitung nicht kriege, brauche ich an diesem Tag eigentlich keinen Schritt aus dem Haus zu tun, weil eh nichts mehr gut werden kann. Bisweilen wird dem Träger oder der Trägerin (heroische Minijob-Existenzen, eine viel zu wenig beachtete und gewürdigte analoge Säule unserer digitalen Informationsgesellschaft) ein Exemplar zu wenig in die Tasche gepackt. Oder aber sie wird geklaut, wobei ich mich immer gefragt habe, was das für Leute sind, die Zeitungen klauen. Ich habe keine Antwort gefunden, fühle aber immer Mitleid, wenn ich an diese Menschen denke.

Manchmal ist sie zwar da, sieht aber aus, als habe sie eine schlimme Nacht hinter sich: regenfeucht, das Mascara ihrer Schlagzeilen die Wangen ihrer Titelseite herabrinnend, sieht sie aus wie eine verschmähte Liebhaberin, die nicht locker lassen will.

Habe ich das Blatt von der Türschwelle geborgen und mich am Frühstückstisch niedergelassen, überkommt mich eine Form der Gelassenheit, von der ich weiß, dass ich sie den gesamten restlichen Tag nicht mehr erreichen werde, eine geradezu buddhistische Ruhe. Ich habe mich eingeloggt in das große Ganze, nehme teil am Weltgeschehen, und das auch noch in der für mich denkbar angenehmsten Art und Weise: passiv, sitzend, mit einer Tasse Kaffee neben mir.

Woher rührt diese obsessive Beziehung zur Morgenzeitung? Ich habe den Eindruck (lasse mich aber gern widerlegen), dies ist ein eher maskulines Verhaltensmuster, jedenfalls komme ich zu diesem Schluss, wenn ich streng wissenschaftlich vorgehe und mich zu erinnern versuche, wann das bei mir selber angefangen hat. Die erste Teilhabe an der Morgenzeitung markierte irgendwann in den Siebzigerjahren einen der vielen wichtigen Schritte vom Knaben hin zum Manne, wie der erste Stadionbesuch, die erste Tasse Kaffee, die erste Flasche Bier, die erste nächtliche Pollution.

Bei uns war das ganz klar geregelt: Mein Vater teilte am Frühstückstisch die WAZ gerecht zwischen sich selbst, meiner Mutter und mir auf: er sicherte sich zuerst den wichtigsten Teil, den Sport, reichte den nur beiläufig wahrgenommenen Lokalteil an seine Frau weiter und schob den Haupt- oder, wie der korrekte Terminus lautet: Mantelteil in meine Richtung, mit einem Blick, der zu sagen schien: „Du bist jetzt ein Mann! Mach was draus!“ Stumm und konzentriert arbeiteten wir unseren jeweiligen Teil durch und tauschten sie untereinander aus, bis jedes Mal unweigerlich ein Stau entstand, weil meine Mutter den Lokalteil scheinbar auswendig lernte, während mein Vater und ich mit Sport und Mantel schon längst fertig waren.

Abgesehen von diesem zwanghaften Bedürfnis beim Frühstück zu lesen, ist auch noch von der Vorliebe des Lesens auf der Toilette zu berichten. Den kleinen Bibliotheken auf diversen von mir überprüften Gästetoiletten nach zu urteilen, ist dieser Brauch besonders weit verbreitet. Ich selbst gebe in diesen Momenten Nachrichtenmagazinen und Illustrierten den Vorzug, da mir die Tageszeitung zu unhandlich ist und ich für die Lektüre von Romanen und Erzählungen das Gefühl brauche, komplett angezogen zu sein, um mich dem Gelesenen nicht noch weiter auszuliefern, als ich es ohnehin schon tue. Dass ich diese Angewohnheit aus meiner Kindheit und Jugend herüber gerettet habe, ist fast schon ein Wunder, sah ich mich hierbei seinerzeit doch erschwerten psychischen Bedingungen ausgesetzt. Vielleicht erinnern sich einige noch an die Unsitte, in den Siebzigern Badezimmer mit lofotengrünen Kacheln, Waschbecken und Badewannen auszurüsten, oder, wenn es edler aussehen sollte, alles in einem dunklen Stuhlgangbraun zu halten. Diese Geschmacklosigkeiten machten meine Eltern nicht mit, sondern entschieden sich lieber für eine andere und statteten unser recht kleines Badezimmer, im Bestreben, es größer erscheinen zu lassen, mit Spiegelfliesen aus. Ja, Sie haben richtig gelesen: Spiegelfliesen! Zwar wirkte der Raum tatsächlich etwas größer, allerdings hatte man beim sitzungsbegleitendem Zeitunglesen immer den Eindruck, fünfzehn andere dicke Jungs sehen einem dabei zu!

Wie gesagt, die Zeitung der Erwachsenen brachte einen in Kontakt mit der großen weiten Welt, oder sagen wir besser: mit vielen unterschiedlichen Welten, die irgendwo dort draußen mit ihren Verlockungen, Rätseln und Gefahren auf uns warteten. Ab einem heute nicht mehr exakt zu bestimmenden Punkt fiel mir auf, dass etwa die von meinem Großvater bevorzugte Vier-Buchstaben-Zeitung mit den großen Lettern und den vielen Bildern nicht nur dazu da war, Fußballer mit Schulnoten zu bewerten und besonders wertvolle, zu Toren führende Spielzüge in kleinen Zeichnungen darzustellen, sondern auch dem aufstrebendem Jungmann zu zeigen, wie die Frauen unter ihren Sachen aussahen. „Der interessiert sich richtich für dat, wat inne Welt los is, aus dem wird ma wat“, kommentierte mein Oppa meine neu erwachte Vorliebe.

Mit fortschreitender Reife schwand zwar nicht das klammheimliche Bedürfnis, Frauen, die zu dämlich grinsenden Objekten männlicher Lust degradiert wurden, zu betrachten, wohl aber wuchs die Einsicht, dies besser nicht offen zuzugeben, um ihnen auch mal in der so genannten Realität näher zu kommen. Im Studium zeigte man sich in der Cafeteria des Gebäudes A der Geisteswissenschaften (Geschichte, Kunstgeschichte, Philosophie und Theologie) gern mal mit der Frankfurter Rundschau, während man in Gebäude B auch mal eine FAZ aufblitzen lassen konnte, um sich bei den mehrheitlich politisch indifferenten Romanistinnen ein Image gepflegter Intellektualität zuzulegen. Hatte man dieses Stadium hinter sich und strebte man nun nicht mehr allein nach Diskussion und Meinungsaustausch, sondern nach der reinen Wahrheit, landete man schließlich unweigerlich bei der taz. Zunächst strich man nur immer wieder um den Zeitungsstand herum und legte sich einzelne Exemplare zu, bevor man sich zu einem Abo entschloss, obwohl man damals noch nicht mit einer Tasse oder einem Badetuch dafür belohnt wurde.

Die Beziehung zwischen mir und dem überregional erscheinenden Berliner Lokalblatt hatte anfangs mit Widrigkeiten in Form von Sabotage-Akten Dritter zu kämpfen. Zwar war mir die frühmorgendliche Lieferung ab einem bestimmen Datum fest zugesichert worden, doch funktionierte die Zustellung anfangs nur sporadisch. Allzu oft fand ich den Bereich an der Haustür verwaist vor. Da mir gewisse Probleme beim Vertrieb noch aus meiner Zeit als Redakteur der Schülerzeitung bekannt waren und ich noch der klischeehaften Vorstellung der taz-Redaktion als eine Art Bundes-SV verhaftet war, schaltete ich in den Abwarten-Modus und baute darauf, dass diese anfänglichen Schwierigkeiten sicher bald überwunden sein würden.

Waren sie nicht.

Nach drei Wochen, in denen höchstens ein Drittel der Ausgaben bei mir angekommen waren, wählte ich die Nummer der Berliner Abobetreuung, kumpelte den Herrn am anderen Ende mit einem solidarischen Du auf meine Seite, sparte auch nicht mit „Ey“ und „Is schon okay“, fragte nach seinem Namen, beteuerte, dass mich die Menschenrechtsverletzungen in seinem Heimatland wahnsinnig wütend machten, worauf er mir stark schwäbelnd versicherte, die Situation in Baden-Württemberg habe sich mittlerweile durchaus entspannt. Außerdem wollte er von mir wissen, wieso ich anrief. Ich schilderte ihm die Problemlage, vermutete üble Machenschaften der kleinbürgerlichen Ruhrgebietspresse, auf deren Trägerdienste die taz bei der Auslieferung angewiesen war, und bekam zu hören, man werde sich bemühen, schnelle Abhilfe zu schaffen. „Ach, eilt nich, Alter!“, übte ich mich in Leutseligkeit, und wurde mit einem „Vielen Dank, dass Sie angerufen haben, Herr Goosen“ verabschiedet.

Ich fand, das Gespräch war gut gelaufen, allein, in der eigentlichen Causa bewegte sich nichts, die Lieferung meiner Zeitung blieb lückenhaft. Es folgten zwei weitere Anrufe meinerseits, allerdings in veränderter Tonlage, die keinen Zweifel daran ließen, dass ich Stuttgart und Umgebung schon immer für eine der miesesten Ecken überhaupt gehalten habe. Immerhin wurde mir versichert, man werde massiven Druck auf den örtlichen Trägerdienst ausüben, denn nur dort könne der Fehler liegen.

Kurz darauf begann der nächtliche Terror. Morgens um vier saß ich plötzlich senkrecht im Bett, weil sich der fiese Lärm dieser uralten, gleichwohl in unfassbarer Lautstärke schnarrenden Türklingel, die ich von meinem Vormieter übernommen hatte, einem rostigen Messer gleich durch meine Ganglien fraß. In der ersten Nacht glaubte ich an einen schlechten Scherz eines volltrunkenen Nachbarn, in der zweiten an einen merkwürdigen Zufall, in der dritten keimte der Verdacht einer zielgerichteten Aktion gegen meine nervliche Gesundheit. Am nächsten Abend stellte ich mir den Wecker auf Drei Uhr Dreißig, hockte mich im Hausflur auf die unterste Treppenstufe und hörte dem Regen zu, der in dieser Nacht auf die Castroper Straße niederging. Wenige Minuten nach Vier näherte sich ein Schatten der Tür, blieb direkt davor stehen, und noch bevor dieses Subjekt seinen Finger in Richtung meines Klingelknopfes heben konnte, riss ich die Tür auf und brüllte ein erbostes: „Was‘ loss, Kolläge?“ in die Nacht hinaus, bestrebt, den von mir vermuteten Jargon der geringfügig Beschäftigten zu treffen. Vor mir stand ein mittelgroßer Mann in einem blauen gefütterten Anorak mit über den Kopf gezogener Kapuze.

„Sind Sie Goosen?“

„Wer will das wissen? Kolläge?“

In einer blitzschnellen Bewegung hob er eine Hand über den Kopf und schlug zu, allerdings nicht mit der Faust, sondern mit etwas von eindeutig defensiverer Konsistenz.

„HIER IST IHRE ZEITUNG!“, schrie er wie von Sinnen, „IHRE VERDAMMTE SCHEISS-ZEITUNG, SO WIE JEDEN MORGEN, SIE VERBLÖDETES ARSCHLOCH.“

Ich versuchte, seine Schläge abzuwehren und ging in die Knie. Mit einem letzten Fluch schleuderte er das tropfnasse Papier vor mich hin und verschwand. Vor dem Badzimmerspiegel sah ich die rote Farbe des Zeitungsnamens wie Blut an meiner Schläfe kleben. Wunden im Kampf um die Aufrechterhaltung der Informationsfreiheit - dachte ich da noch, aber nur wenige Stunden später geriet ich versehentlich in ein Hausflur-Gespräch mit meiner stets missmutigen Vermieterin und erzählte ihr, dass ich in letzter Zeit Probleme mit der Zustellung gehabt hätte. Überrascht kniff sie die Augen zusammen und zog gleichzeitig die Brauen in die Höhe: „Ach, dat war Ihre Zeitung? Ich dachte, dat wär so‘n scheiß Anzeigenblättchen. Ich hab dat immer weggeschmissen. War dat falsch?“

Von da an gab es mit der Lieferung keine Probleme mehr und die taz erfuhr sogar noch eine Erweiterung ihres Informationsauftrages: alle zwei Wochen musste, wie es sich in einem ordentlich Haus gehörte, der Flur geputzt werden, was ich stets als gut gemeinte Anregung, nicht aber als zwingende Handlungsaufforderung verstanden hatte, zumal die mir gegenüber wohnende Nachbarin in „ihrer“ Woche die Treppe so sauber hinterließ wie einen Operationssaal. Bekanntlich geht es bei der „Kehrwoche“ jedoch nicht um die Sauberkeit, sondern ums Prinzip, und so fand ich immer wieder meine Zeitung mit einem dicken Edding um eine pamphletartige zusätzliche Schlagzeile angereichert, wie etwa: FLUR PUTZEN! Oder: FLUR IST NICHT GEPUTZT oder einfach nur: PUTZEN! Einmal klebte, als ich tieftrunken kurz vor Sonnenaufgang von einem intensiven Affentanz in der Discothek Macao kam, ein taz-Ausriss über dem Schloss meiner Wohnungstür. Ich erkannte ein P, ich erkannte ein U, schob mir den Mist in den Mund und verdaute.

Seitdem besteht mein größtes Problem mit dieser Zeitung darin, dass ich, bei aller Eitelkeit, nicht so gern in ihr vorkomme, weil es dann meistens auf die Mütze gibt. Von der Maxime, keine Zeitungen mehr zu lesen, die mich verreißen, bin ich aber nach meinem zweiten Buch wieder abgekommen, weil ich dann beim Frühstück womöglich mit den anderen Anwesenden reden müsste, und wir wollen doch nicht übertreiben.

Ach ja, folgendes noch: meine Frau ist auch eine von denen, die den Lokalteil so unglaublich gründlich lesen, dabei kommt sie nicht mal von hier. Kürzlich sagte ich zu ihr: „Manchmal erinnerst du mich an meine Mutter.“ Das war nicht gut.

Frank Goosen