: Alles eine Frage der Zuvielheit
Ein Stück über Paarprobleme und seelische Beschädigungen, das im Kern an Beckett und Tschechow erinnert, an den Rändern jedoch wieder gewohnt geschwätzig bis zur wüsten Fantasterei ist: „Die eine und die andere“ von Botho Strauß unter der Regie von Dieter Dorn am Münchner Residenztheater
VON SABINE LEUCHT
Ja, aber hallo! Wer will denn so was wissen. Dass die Luftgeister Elaine auf den Kopf pieseln, wenn die Kurzstreckenläuferin mit der Schmerzsucht mal wieder einen Fehlstart hatte. Und wen interessiert der Halsschmuck der Nophagen (deutsch: Neinfresser)? Es sind die 50- bis 70-Jährigen mit jugendlich gewelltem Haar, die zwar noch ausgewachsene Handküsse zuwege bringen, sich aber vor den Folgen fürchten: Denn da geht für den sanften Misanthropen der Schlamassel erst los. Die Jünger des Gegenaufklärers und versierten Fährtenlegers Strauß sind sich sicher, dass gleich nach der Klassik der kulturelle Niedergang begann und gleich nach dem ersten Wort das Missverständnis: Es sind gut situierte Leute, aber auch sehr, sehr sensible. Gerne zögen sie mit ihrem Autor gegen die „Anfechtungen durch das Anästhetische“ zu Felde, bescheiden sich notfalls aber auch mit wissendem Schmunzeln: beim Zuschauen oder szenischen Nachvollzug der Preziosen des Meisters.
Strauß-Jünger sind demnach ganz so geraten wie die Peter Steins, Luc Bondys, Claus Peymanns und Dieter Dorns dieser Welt. Letzterer hat am Donnerstag seine neunte Strauß-Inszenierung auf die Bühne des Münchner Residenztheaters gebracht – und die vierte Uraufführung. „Die eine und die andere“ ist wieder mal ein Stück über Paarprobleme und seelische Beschädigungen, die Strauß unter sein ästhetisches Vergrößerungsglas legt, um sie eiskalt zu sezieren. Dann hängt er ihnen Verzierungen an, tupft ein wenig Mystik und christliche Symbolik hinzu, und spätestens da scheiden sich an ihm seit fast drei Jahrzehnten die Geister. Es ist, wie es in „Die eine und die andere“ heißt „alles eine Frage der Zuvielheit“.
Dennoch ist das neue Stück eine Überraschung. Mit seinen für Strauß-Maßstäbe immens langen Dialogen erinnert es im Kern an Beckett und Tschechow, an den Rändern jedoch ist es wieder gewohnt geschwätzig bis zur wüsten Fantasterei. Vier Hauptpersonen sind es diesmal nur, zuletzt bei „Der Narr und seine Frau heute Abend in Pancomedia“ waren es über hundert. Und Dorn hat das Stück erstaunlich wenig auf Hochglanz poliert: Im Bühnenbild von Jürgen Rose stehen schlichte Prospekte vor der weiß getünchten Brandmauer des Münchner Residenztheaters. Einmal eine alte Villa im Oderbruch, wo sich Insa – „die eine“ – eine glücklose Pension aufgebaut hat und nach 28 Jahren wieder auf Lissie trifft: zwei „weibliche Großmächte“ und einander unentbehrlich gewordene Feindinnen. Insas Tochter Elaine und Lissies Sohn Timm aber sind die verlorenen Kinder der Moderne, ohne die ein Strauß-Text niemals auskommt: zugeordnet der Stadt, der Gefühls- und Orientierungslosigkeit. Sie lässt sich ans Kreuz binden – mit einem langen Nagel durch den Hinterkopf. Er ist der staunende Narr und ewige Kopfschüttler, der mit Elaine eine Art Liebe unterhält – so rein wie die eines Eiskunstläuferpaars. Vielleicht, weil sie in Wahrheit Halbgeschwister sind, denn Lissie hat damals wie heute stets Insas Männer übernommen.
Jens Harzer, dem Strauß die Rolle des Timm auf den Leib geschrieben haben soll, ist ein Schauspieler, der stets wirkt, als käme er von einem anderen Stern. Hier aber ist er der große Zurechtbieger der Realität, der den „Dingmenschen“ „Nagel“ und „Schwamm“ ein zagendes „Ich glaub nicht dran“ entgegenschnurrt. Und der Elaines Bitte nicht nachkommen mag, sie so fest einzuschnüren, dass nur noch Löcher zum Schnaufen und Sehen übrig sind – und das „Loch für unten das“. Timm-Harzer ist es erlaubt, Nein zu sagen zu den Verrücktheiten seines Erfinders und dafür möchte man ihn küssen. Ebenso wie Gisela Stein und Cornelia Froboess als Lissie und Insa, die über die Schwachheiten des Stücks hinwegstapfen wie über Unkraut in einem Schrebergarten, wo auf Schritt und Tritt Zupacken angesagt ist.