Jenseits der Zittergrenze

Deutschland im Rausch? Auch wenn man sich ja sonst nichts gönnt: Eine Tasse Kaffee verspricht Genuss im Alltag. Ohne Reue, denn das zugehörige schlechte Gewissen wurde jüngst abgeschafft

VON MARTIN REICHERT

Diese Droge wirkt stimmungsaufhellend, lindert Schmerzen, steigert die körperliche Leistungsfähigkeit und die Konzentrationsfähigkeit des Geistes, sie erhöht Aufmerksamkeit, Wahrnehmung und Reaktionsfähigkeit und verbannt den Schlaf – kurzum: Diese Droge belebt Geist und Körper und ist im Gegensatz zum wesentlich teureren Kokain auch noch ganz einfach zu beschaffen. Es handelt sich um Koffein, das, als Kaffee verkleidet, den Drogenwächtern dieser Welt schon beim Frühstück die Sinne derart vernebelt, dass sie gar nicht mehr auf die Idee kommen, die Substanz verbieten zu wollen.

Doch kein Flüssigkeitsräuber

Nun hat die Wissenschaft, von der Universität Connecticut bis hin zum Forschungsinstitut für Kinderernährung in Dortmund, auch noch die allerletzten Bedenken gegen die psychoaktive Droge aus dem Weg geräumt: Entgegen landläufigen Ansichten wirkt Kaffee in Maßen, in einer Dosierung von etwas 300 Milligramm Koffein, verteilt auf zwei bis drei Becher, keineswegs dehydrierend. Koffein ist gar kein Flüssigkeitsräuber: Das in der gehobenen deutschen Kaffeekultur gerade erst mühsam unter Verweis auf den gesundheitlichen Effekt erkämpfte „Glas Leitungswasser“ zum Milchkaffee – der Hinweis auf die Herkunft muss sein, denn sonst steht womöglich kostenpflichtiges Mineralwasser auf dem Tisch – ist somit als mediterrane Grille entlarvt. Im Café nebenan selbstbewusst darauf zu bestehen („In Deutschland hat man ja keine Kaffeekultur“) ist nur mehr ein Verweis auf die Inszenierung von Weltgewandtheit und Anschlussfähigkeit in puncto Genusskultur – schließlich ist der Kaffeegenuss längst zur Lifestyle-Orgie avanciert: Der Siegeszug der italienischen Espresso-Bar und ihrer reimportierten Wiedergänger der amerikanischen „Starbucks“-Klasse (von „Balzac“ bis „Meyerbeer“) geht einher mit der flächendeckenden Latteisierung Deutschlands.

In Berlin, München, Hamburg und den entlegensten Ecken der suburbanisierten modernen Provinz zischen, oft nervenzerfetzend, die Aufschäumdüsen. Im eher beschaulichen Siegen randalierte unlängst gar ein 25-Jähriger an einer Tankstelle, weil ihm der dort ausgeschenkte ordinäre Filterkaffee nicht gemundet hatte. Er schleuderte das inkriminierte Heißgetränk durch den Verkaufsraum und verletzte die Angestellte durch einen Tritt. Der Kaffee ist zwar bereits seit über 30 Jahren der Deutschen liebstes Getränk, noch vor dem Bier, die Ansprüche an seine Qualität wurden jedoch jenseits des Kaffeefahrtenmilieus deutlich nach oben geschraubt. Nicht zuletzt deshalb setzt der Kaffee nun nach jahrelang schwächelndem Absatz an, Jung und Alt verbindende Konsensdroge Nummer eins zu werden, zumal er es versteht, die in Deutschland tradierten Widerspruch von Genuss & Gesundheit und Genuss & Fleiß zu überwinden.

Ein Heer zum Teil durchaus von der Genussmittelindustrie gesponserter Wissenschaftler belegt die gesundheitsfördernde Wirkung des Kaffees. An der Universität Jena hat man herausgefunden, dass Koffein den kreisrunden Haarausfall bei Männern stoppt, allerdings nur bei einem übermäßigen Konsum von sechzig bis achtzig Tassen täglich, und der britische Thronfolger Prinz Charles ist ein Verfechter der so genannten Gerson-Diät, die mithilfe täglicher Kaffeeeinläufe den Krebs zu besiegen verspricht. Britische Schulmediziner schäumten daraufhin wie eine defekte Espressomaschine, dem Kaffee jedoch ist es gelungen, die weltweit sich formierende Gesundheitsdiktatur zu unterlaufen. Dabei hilfreich mag ihm gewesen sein, dass er im Gegensatz zur Zigarette keinen beißenden Qualm verbreitet, sondern einen gerne als köstlich empfundenen Duft.

Kaffeeverbot? Revolution!

Mögen hartnäckige Kritiker unken, dass Kaffee abhängig macht und das Risiko von Herzerkrankungen erhöht: Eine Anti-Kaffeetrinker-Kampagne würde beim derzeitigen Stand der Dinge zu spontanen Revolten führen. Koffein wird weder als ernst zu nehmende Droge noch als Gift wahrgenommen, der Kaffee wurde zum Genussmittel ohne schlechtes Gewissen, Staat und Gesundheitswesen überlassen es dem mündigen Bürger, seine individuelle, wahrscheinlich sogar genetisch bedingte Zittergrenze auszuloten.

Während in deutschen Fabriken der von als Zeitdiebstahl gewerteten Zigarettenpause der Garaus gemacht wird, bleibt die Bürokaffeepause, Zeitfenster für Verschwörungen und Mobbing, unangetastet. Kein Wunder: Eine Tasse Kaffee gilt als geeignet, die Arbeitskraft wiederherzustellen, denn Koffein mindert die körperliche Erschöpfung und steigert zugleich die Wachheit. Zudem fühlt sich der womöglich geplagte Arbeitnehmer durch ein koffeinhaltigen Heißgetränk in den Stand gesetzt, seinen beruflichen Alltag mit genussvollen Momenten zu durchsetzen und so eine als harmonisch empfundene Kombination von Pflicht und hedonistischen Wertemustern umzusetzen: Der leistungssteigernde Espresso ist mit einer lustvollen Crema bedeckt.

Ein jeder ein Genießer

Die von Japan Tobacco International (JTI) in Auftrag gegebene „Genussstudie 2004“, die zusammen mit verschiedenen Aufsätzen unter dem Titel „Genussbarometer Deutschland“ Ende letzten Jahres im Ch. Links Verlag erschienen ist, belegt: 89 Prozent aller Deutschen sind der Meinung, dass Genuss im Alltag eine wichtige Rolle spielen sollte. Und der Deutschen liebster „kleiner Genuss im Alltag“? Natürlich: eine Tasse Kaffee. Als Genießer jedoch empfindet sich der Deutsche gemeinhin ganz allein: 76 Prozent der Befragten schließen sich dem Klischee an, dass die Deutschen nicht in der Lage seien, ihren Alltag zu genießen. 71 Prozent jedoch behaupten, sich täglich Genüssen hinzugeben: Die piefigen Deutschen, das sind immer nur die anderen, diejenigen also, die vor lauter teutonischer Pflichterfüllung und Spießigkeit nicht über den Filteraufsatz ihrer Kaffeemaschine hinausblicken können und womöglich mit einer Pumpthermoskanne im Gepäck die Toskana bereisen.

Die Studie beweist einmal mehr, dass Genuss im heutigen Deutschland längst ein anerkannter Wert ist. In seiner Wertschätzung über die protestantisch-preußischen Bundesländer des Nordens herausragend sind erwartungsgemäß die südlich-katholischen Genussgemeinschaften Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg und Bayern. Generell jedoch ist Genuss längst nicht nur Auf-, sondern zugleich Anforderung. Wer über kein Peugeot-Mahlwerk verfügt, um seine Pfefferkörner streufähig zu machen, trinkt womöglich auch Instantkaffee und frisst kleine Kinder. Genussterror entfaltet sich eben nicht nur in der Werbung, sondern auch im Kreise der lieben Freunde und Bekannten, denn je nach Statusorientiertheit gilt dort der Leitsatz: Man ist, was man isst – und das, was man sich zum Abschluss des Mahles „gönnt“. Einen kleinen Espresso, bitte schön.

Übrigens ist im Mutterland des „kleinen Schwarzen“ der Umsatz von Espresso in den berühmten Stehcafés seit 1990 um 20 Prozent zurückgegangen. Als Grund für diese Krise wurde die immer schlechter werdende Qualität der verwendeten Bohnen vermutet. Wie auch immer: Das in Italien verhängte Rauchverbot an öffentlichen Orten wird sich wohl nicht absatzfördernd auswirken, denn für viele Kaffeetrinker gehört zum Kaffeegenuss noch etwas dazu. Ein Stückchen Gebäck oder Kuchen, etwas Schokolade oder aber: eine gepflegte Zigarette.

Kaffeehaus ohne Rauch

Der Tabakgenuss jedoch ist in der in den USA erfundenen Neokaffeehauskultur nicht vorgesehen. Man möchte zwar seinen Kaffee zu sich nehmen, wie es dereinst europäische Künstler und Intellektuelle zu tun pflegten. Deren Erzeugnisse zieren denn auch die meist hämatomfarben gestaltete Inneneinrichtung der „Starbucks“-Cafés, ihre schlechten Angewohnheiten sollen jedoch bitte draußen bleiben. Das ist ein bisschen so, wie an einem Joint zu ziehen, ohne zu inhalieren. Mit gesellschaftlich nicht anerkannten Drogen möchten Kaffeejunkies jedenfalls nichts zu tun haben.