: Beklemmende Materie
AUFARBEITUNG In der Stasi-Unterlagen-Behörde wurde ein Reportagenband über die Praxis des Geheimdienstes vorgestellt. Seit der Enttarnung von Karl-Heinz Kurras ist die Debatte über die Stasi wieder voll entbrannt
VON ANJA MAIER
Welches Essen serviert man Leuten, die sich versammeln, um die Schrecken der Stasi zu ergründen? Blutwurst fällt ja wohl aus, und Goldbroiler heißt heute Brathähnchen. Die Organisatoren des Tagesspiegel-Salons hatten sich am Mittwochabend für Hühnerfrikassee entschieden. Dieses Gericht wurde ja in den Jahren der Teilung nur insofern ausdifferenziert, als westdeutsche Köchinnen Dosenspargel hineinfantasieren konnten, ostdeutsche allenfalls Feinfrost-Erbsen.
So kam es, dass Berlinerinnen und Berliner im Informationszentrum der Stasi-Unterlagen-Behörde Reis mit Frikassee aufgekellt bekamen. Die Tischgespräche waren angeregt. Denn Jürgen Schreiber, Chefreporter des Tagesspiegel, hatte aus seiner gerade erschienenen Reportagensammlung „Die Stasi lebt“ gelesen. Vor dem Hintergrund der Enttarnung von Kurras als Stasispitzel hatte es sich die Behördenleiterin Marianne Birthler nicht nehmen lassen, den Autor und seine 100 Zuhörer in den Räumen ihrer Außenstelle persönlich zu begrüßen.
Direkt nach der Wende hat der heute 62-jährige Journalist begonnen, das Abgründige dieses Stücks deutscher Geschichte zu beschreiben und auszudeuten. 20 Texte sind nun versammelt, die meisten waren im Tagesspiegel erschienen, einige wenige im Magazin der Süddeutschen Zeitung. Gelänge es, so Schreiber, mit den Texten „Einblicke in die schwarze Kammer des Verdrängten zu geben“, hätte er viel erreicht.
Schreiber erreicht sein Ziel souverän. Seine Reportagen sind feinziselierte Schmuckstücke, die jeder Skandalisierung entbehren und gründlich recherchierte deutsche Zustände anschaulich beschreiben.
Hier in der Mauerstraße zeigt eine Dauerausstellung auch das Operationsbesteck der Stasi: bei Verhören wurden Stühle der „Zugeführten“ mit Tüchern bedeckt, die danach eingeweckt und beschriftet wurden. Bohnensalat oder Körpergerüche, was machte das schon, wenn es hieß, den Klassenfeind zu bekämpfen? Beklemmende Materie.
Die Behördenleiterin Marianne Birthler steht dieser Tage heftig in der Kritik. Das Material, mit dem in den Archiven umgegangen wird, erzwingt es offenbar, dass sich alle Beteiligten stets und nach Kräften streiten. Die Stasi-Akten ins Bundesarchiv auszulagern stellt da noch eine moderate Forderung dar. Immer wieder wird öffentlich an Birthlers Stuhl gesägt. Die Enttarnung des Ohnesorg-Attentäters Kurras nahmen ihre Widersacher als willkommenen Anlass, eine weitere schöne Attacke gegen sie zu reiten. Vergeblich, darf man hoffen.
Birthler, die irritierenderweise äußerlich immer stärker der Kanzlerin ähnelt, stellte denn auch gleich zu Anfang klar, dass die 178 Aktenkilometer ihrer Behörde keineswegs, so der Vorwurf, „ein Regionalproblem darstellen. Eine Vernachlässigung der Westarbeit des MfS ist nicht der Fall.“ Vielmehr handele es sich bei der Stasi-Vergangenheit um „tiefe Wunden, die uns alle beeinträchtigen“. Sprach’s, setzte sich in die erste Reihe und lauschte dem nun Folgenden.
Jürgen Schreiber las zu Beginn seine Reportage „Die Geschichte eines Verdachts“ über den Tod von Jürgen Fuchs. Der ostdeutsche Schriftsteller starb vor zehn Jahren an Krebs, bis zuletzt trieb ihn der Gedanke um, die Stasi habe ihn im Knast radioaktiv verstrahlt. Die Sache blieb unaufgeklärt, der Todkranke geriet in den Ruch eines Paranoikers. „Was suche ich denn? Sauereien suche ich …“, schrieb er vor seinem elenden Tod.
Der Reporter Schreiber machte sich noch einmal auf die Spur. Er traf Fuchs’ spitzelnden Studienfreund, sprach mit anderen Gefangenen. Er gab Fuchs die Würde zurück, die seine Peiniger schon perdu sahen.Wie Jürgen Schreiber da saß, senffarbenes Wolljackett, Joggingschuhe, Hornbrille, und in seinem bedächtigen württembergischen Dialekt von unverbesserlichen Stasi-Opas, Wanzen in Kohls Kanzlerbungalow erzählte, von seiner nie nachlassenden Angst, an der Tür von Tätern zu klingeln, verblasst der harte Rechercheur. Hervor tritt ein Mann, der vor 20 Jahren das große journalistische Thema für sich erkannt hat. Und der nun diese Suppe aus Deutsch-Deutschem, Liebe und Verrat, Schmutz und Kleinheit auslöffelt. Weil das, worüber er schreibt, einfach nicht enden will.
■ Jürgen Schreiber: „Die Stasi lebt. Berichte aus einem unterwanderten Land“. Knaur-Verlag, München 2009, 224 S., 8,95 €