Orchestrale Traumschmiere

Auf ihrem neuen, über weite Strecken fantastischen Album „Bitte Orca“ schafft die New Yorker Band Dirty Projectors eine Gratwanderung: Unruhe und Brutalität fließen in ihre Musik ein, genau wie Komfort und Zweckdienlichkeit. Das Chaos der Alltagsgeräusche bekommt eine dynamische Struktur. In der Musik der Dirty Projectors ringen die zentripedalen und zentrifugalen Kräfte konstant miteinander. Einschmeichelndes und Unheimliches liegen nebeneinander. So entsteht eine Dramaturgie, die spektakelnd und zugleich relaxt klingt.

Dirty-Projectors-Mastermind David Longstreth hat eine klassische Musikerkarriere durchlaufen. Er vergleicht die ihn umgebenden Umweltgeräusche mit den verschiedenen Sektionen eines Orchesters. „Orchester ist wie Traumtheater. Man kann es in Beziehung zu den unterschiedlichen Regionen des menschlichen Hirns setzen. Musik wäre somit leise wummerndes Bewusstsein oder besser: eine sanft einschmeichelnde Klangenergiemassage dieses Bewusstseins.“

Die Gesamtheit aller hörbaren Geräusche hat der kanadische Klangforscher und Komponist R. Murray Schafer einmal als Lautsphäre bezeichnet. Besonders drastisch klingt die Lautsphäre seit dem Zeitalter der Industrialisierung. An diese Drastik hat sich die Menschheit längst gewöhnt. Mit Muray Schafer ließe sich daher fragen, ob Musik heute die sie umgebende Lautsphäre annähernd so abbilden kann, wie etwa vor 150 Jahren Baudelaire-Gedichte den damals neuen Krach auf Pariser Straßen beschrieben haben. Die Musik der Dirty Projectors ist der ernsthafte Versuch, gegenwärtiges Lautsphären-Durcheinander in eine Form zu gießen.

Auf dem Papier funktioniert das Quartett wie eine Rockband: Neben dem gitarrespielenden und leadsingenden Longstreth spielt Amber Coffman Gitarre und singt, Bassistin Angel Deradoorian singt ebenfalls. Stumm bleibt nur Schlagzeuger Brian McComber, der auf „Bitte Orca“ langsam-zeitversetzte Rhythmen abspult, als würde er den anderen um Tage hinterherhinken. Chorgesang ist der soziale Klebstoff. Longstreth schätzt mehrstimmige gregorianische Gesänge. Ihre tiefe meditative Einkehr blitzt ständig in den Songs von „Bitte Orca“ auf, vermischt mit afrikanisch anmutenden Gesangstechniken als melodischen Tangenten. Manche dieser Gesangsmelodien sind wie Eisskulpturen, bauen aufeinander auf, verschmelzen und tauen irgendwann einfach weg. Dazu kommen Laut-und-Leise-Instrumentalpassagen, plötzliche Überblendungen auf Klangdetails von R & B bis Folk. Damit klinken sich die Dirty Projectors immer wieder aus den Zwickmühlen von Songarrangements aus und fangen Neues an, ohne das Alte fertigzustellen. In dem Song „Useful Chamber“ liefert Longstreth ein Bild dieser Gedankenwelt: „I’m caught up in a storm that I don’t need no shelter from“. Im Auge des Orkans Ruhe und Übersicht zu behalten, gehört zum Konzept. Mit der Appropriation Art wurden die musikalischen Einfälle der Dirty Projectors schon verglichen. Technische Vorüberlegungen und nüchterne Analysen mögen zu Beginn eines Dirty-Projectors-Album stehen. Wie die New York Times schrieb, „bekommt die Cleverness aber nie die Oberhand“. Die Dirty Projectors werden immer wieder überwältigt von den Wirkungen ihrer Songs. Gelegentlich scheitern sie auch daran, was aber weniger wiegt als die überbordenden Fantasien, die aus „Bitte Orca“ sprechen.

Schon ihrem letzten Album „Rise Above“ (2007) lag die brillante Idee zugrunde, das stilbildende Hardcore-Punkalbum „Damaged“ der kalifornischen Band Black Flag aus dem Gedächtnis heraus neu zu spielen; anders gereiht, umarrangiert und um fiktive Textzeilen erweitert, wurde der Absolutheit des bösen Punkmanns eine ordentliche Portion weiblicher Skepsis beigemischt. Musikalische Dekonstruktion ersetzte den Retro-Beigeschmack einer bloßen Coverversion.

Der titelgebende Killerwal „Bitte Orca“ wurde von Amber Coffman tatsächlich an der nordkalifornischen Küste gesichtet.

JULIAN WEBER

■ Dirty Projectors „Bitte Orca“ (Domino/Indigo)