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Archiv-Artikel

„Alle Religionen sind vergiftet“

Mit dem Duett „Isyankar“ sind sie seit zwei Wochen in der deutschen Single-Hitparade. Ein taz-Gespräch mit dem türkischen Sänger Mustafa Sandal (35) und dem deutschen Reggae-Star Gentleman (31) über das Verhältnis ihrer beiden Länder, den Respekt voreinander und ihr Verständnis von Religion

INTERVIEW DANIEL BAX

taz: Mustafa Sandal, Gentleman, in gewisser Weise sind Sie beide sehr typisch für Ihre Länder: In Deutschland ist die Popmusik sehr von internationalen Genres geprägt. Türkische Popmusik dagegen hat einen sehr eigenen, lokalen Klang. Warum ist das so?

Mustafa Sandal: Wir Türken haben eben bestimmte Rhythmen und Instrumente, die wir gerne in unserer Musik hören: Die Flöte, das Kanun, die Oud. Unsere Ohren sind an diese Instrumente gewöhnt, darum kann man sich türkische Popmusik ohne sie nicht vorstellen. Auch ich integriere sie in meine Musik. Aber ich habe immer versucht, einen internationalen Ton zu treffen und die richtige Balance zu finden.

Gentleman, Sie haben den Song „Isyankar“ Ihres Kollegen Mustafa Sandal überarbeitet. Hatten Sie vorher schon einen Bezug zu türkischer Musik?

Gentleman: Ich habe mir selbst noch nie ein türkisches Album gekauft. Aber auf meiner Schule waren viele Türkinnen und Türken, da war Türkpop sehr angesagt. Ich hatte immer Respekt davor, weil es sehr leidenschaftlich ist und von Herzen kommt. Das ist das Wichtigste bei Musik.

Mustafa Sandal, in der Türkei zählen Sie zu den großen Stars. Angefangen haben Sie aber als Produzent.

Mustafa Sandal: Ich habe zunächst Modedesign studiert. 1989 bin ich dann als Produzent ins Musikgeschäft eingestiegen. Fünf Jahre lang habe ich für viele andere Künstler Hits geschrieben, bevor 1994 mein erstes Album unter eigenem Namen erschien. Ich bin praktisch durch die Küche gekommen.

Und Sie, Gentleman: Wie kommt ein Kölner zum Reggae?

Gentleman: Mit 17 Jahren bin ich zum ersten Mal nach Jamaika gereist und dort hängen geblieben. Wenn man in eine Kultur eintaucht, wird man nach einiger Zeit ein Teil von ihr. Das ist keine bewusste Entscheidung, das passiert einfach. Ich hatte nie den Plan, eines Tages Reggae-Sänger zu werden. Ich habe in einer Bar in Köln gearbeitet, um mir das Geld für mein nächstes Ticket nach Jamaika zu verdienen. Und ich habe angefangen zu singen, weil es mir Spaß gemacht hat.

Reggae ist ja mehr als bloß ein Musikstil, es ist ein Lebensstil. Welche Rolle spielt für Sie dabei die Religion?

Gentleman: Ich bin ein sehr religiöser Mensch, aber ich glaube nicht an Religionen: Das ist ein Unterschied. Ich respektiere den Glauben der Rastafaris, es ist eine Religion ohne Mauern, ohne Kirche. Gleichzeitig habe ich auch viel Wahrheit im Christentum gefunden, im Islam und im Buddhismus. Alle Religionen haben einen guten Kern. Es ist nur so, dass die meisten Religionen in dieser Welt …

Mustafa Sandal: … vergiftet sind.

Gentleman: Ja, vergiftet. Die Botschaft wird fehlinterpretiert.

Sie kommen aus einer religiösen Familie?

Gentleman: Ja, mein Vater war ein Priester. Aber er hat mich nie dazu angehalten, in die Kirche zu gehen. Ich mochte es auch nicht: man durfte nicht lachen und musste auf harten Bänken sitzen, das war nicht mein Vibe. Ich habe Gott nicht gespürt in der Kirche. Aber ich bin früh mit der Bibel in Kontakt gekommen, und das ist ein sehr weises Buch. Ich beziehe eine Menge Inspiration für meine Texte aus der Bibel.

Sehen Sie Parallelen zwischen dem Islam und der Rastafari-Religion? Beide grenzen sich ja stark vom „westlichen Materialismus“ ab.

Gentleman: Ich bin nicht sehr vertraut mit dem Islam, darum kann ich nicht viel darüber sagen. Aber die Liebe zum Nächsten, der Respekt für den anderen: das vermisse ich sehr in der westlichen Welt. Respekt muss die Basis sein: Zu realisieren, dass wir nur ein kleines Staubkorn sind in dieser Welt.

Zum Videodreh haben Sie Mustafa Sandal in der Türkei besucht. Wie hat es Ihnen dort gefallen?

Gentleman: Ich war sehr überrascht, in Istanbul so viele Mädchen im Mini-Rock oder in Hotpants zu sehen. Ich weiß natürlich, dass Istanbul nicht die Türkei ist: So, wie London nicht England ist und Kingston nicht Jamaika. Aber Istanbul hat ein tolles Nachtleben. Und die Leute sind sehr offen: Sie schauen dir in die Augen, wenn sie mit dir reden.

Herr Sandal, Sie werden sicher sehr oft auf den möglichen EU-Beitritt Ihres Landes angesprochen …

Mustafa Sandal: Natürlich. Aber, ehrlich gesagt: Ich denke, die Türkei wird in den nächsten mindestens zehn Jahren nicht in die EU kommen. Das Land muss noch einen Prozess durchmachen. So, wie Gentleman richtig gesagt hat: Istanbul ist nicht die Türkei. Wir können ein Teil von Europa sein, und wir sollten ein Teil von Europa sein. Aber erst müssen sich noch einige Sachen ändern: Zum Beispiel der allgemeine Bildungsstand, um den Boden für ein gegenseitiges Verständnis zu bereiten.

Wenn Sie sagen, die Religionen sind vergiftet: Sehen Sie das in der Türkei als ein besonderes Problem an?

Mustafa Sandal: Das ist auf der gesamten Welt ein Problem. Ich denke, dass die meisten Religionen sehr vergiftet sind. Das ist kein Wunder: Stellen Sie sich vor, in diesem Raum befänden sich 5.000 Menschen, und Sie würden ihrem Nachbarn etwas erzählen, der es dann wieder seinem Nachbarn weitersagt.

Wir nennen das „Stille Post“.

Mustafa Sandal: Wenn die Botschaft dann bei der fünftausendsten Person angekommen ist, wird sie sich völlig verändert und verfälscht haben. So ist das, denke ich, mit den Religionen. Die eigentliche Botschaft ist doch: Tue Gutes! Achte dich und deine Nächsten! Baue deine Beziehungen auf Respekt und Liebe auf, nicht auf Hass! So simpel das klingt, es funktioniert leider nicht so. Aber warum nicht? Ich habe einmal vor zehn, zwölf Jahren einen Song geschrieben, darin heißt es: Oh Adam, wie konntest du nur einen Apfel essen, und uns im Zweifel lassen?

Sind Sie religiös?

Mustafa Sandal: So wie Gentleman sehe ich Religionen als einen Weg zu innerem Frieden, in Harmonie mit der äußeren Welt. Jedes Individuum muss seinen eigenen Pfad finden, seiner eigenen inneren Stimme folgen. Aber alle diese Pfade führen zum gleichen Ziel.

Gehen Sie in die Moschee?

Mustafa Sandal: Wissen Sie, wie ich bete? Ich rede mit mir selbst.

Trotz dreißig Jahren Einwanderung scheint es zwischen Deutschen und Türken noch immer eine unsichtbare Mauer zu geben. Man lebt nebeneinander her. Woran liegt das?

Gentleman: Ich glaube nicht, dass man das verallgemeinern kann. In meiner Kölner Schulklasse waren 14 von 25 Schülern Türken, aber wir haben nie eine Kluft zwischen uns empfunden. Die gibt es sicher – aber eher auf einer politischen denn auf einer zwischenmenschlichen Ebene.

Mustafa Sandal: Ich denke, in drei oder vier Generationen wird diese Kluft immer mehr verschwinden. Wir schauen immer mit einem sehr menschlichen Zeitmaß auf die Dinge. Wir sollten sie aber besser in einem größeren, einem kosmischen Zeitmaß betrachten. Werden wir in 200 Jahren noch immer über dieses Thema reden: Türken und Deutsche? Ich glaube nicht.

Gentleman: Es ist noch nicht so lange her, da glaubten die Leute, dass die Erde eine Scheibe wäre. Und es gab den Klerus, der diese Sicht der Welt bestätigt hat. Es gibt eben immer bestimmte Stufen der menschlichen Entwicklung, und ich glaube nicht, dass wir schon die letzte erreicht haben. Wenn ich mir meinen kleinen Sohn ansehe – seine Mutter ist Jamaikanerin, ich bin Deutscher, er ist gemischt. Und so sind viele Kinder in seinem Alter, in seinem Kindergarten. Es gibt keine rein deutsche Jugend mehr, sie ist multikulturell. Und das ist nicht nur in Deutschland so: Die ganze Welt rückt enger zusammen.

Sind die in Deutschland lebenden Türken Vermittler zwischen den Kulturen?

Mustafa Sandal: Ja, natürlich. Wenn ein türkischer Künstler nach Deutschland kommt und bei einer deutschen Plattenfirma unterschreibt, dann spielen die hiesigen Türken dabei natürlich eine große Rolle.

Gentleman: Ich habe wirklich viel Respekt vor den Türken, die in Deutschland leben. Es braucht viel Kraft, um so eine Brücken-Funktion zu übernehmen. Ich kenne das ja von der Mutter meines Sohnes: Sie lebt seit fünfzehn Jahren in Deutschland. Wenn sie nach Jamaika reist, gilt sie als Deutsche. In Deutschland dagegen wird sie als Jamaikanerin angesehen. Aber ich habe den Eindruck, es entsteht bei den Deutschtürken im Moment ein neues Selbstbewusstsein, ob das nun im Comedy-Bereich, in der Musik oder im Film ist. Das zeigt, dass sich die Kulturen weiterentwickeln.