piwik no script img

Archiv-Artikel

Heides Straße

Heide, die Hüte mag und Flohmärkte und eine Kodderschnauze hat. Der Schiffbauer Orhan Halil fand das lange cool. Aber jetzt ist Schluss

AUS KIEL HEIKE HAARHOFF

In die Nachtigalstraße, die Heide Simonis ihr landesweit bestes Ergebnis beschert hat, kam am Morgen des 6. Januar 2005 ein Gerichtsvollzieher. Er hatte einen Titel, der lautete auf Zwangsräumung des Hauses Nr. 24, 1. OG links, und er hatte einen Grund, das waren Mietschulden.

Die Nachbarn haben sich manchmal schon Gedanken gemacht. Zum Beispiel, sagt Cem Yaltirik, der 25-Jährige aus dem Erdgeschoss, was die grün schimmernden Schmeißfliegen im Treppenhaus sollten, mit ihren fetten Leibern. Der Gerichtsvollzieher brach die Wohnungstür auf. Der Rentner, der hier seit 1991 gelebt hatte, lag tot auf dem Bett. Er war wohl im Schlaf gestorben, teilte die Polizei später mit. 68 Jahre alt, er hatte etwas länger als zwei Jahre so dagelegen.

Nein, sagt Cem Yaltirik, er und seine Eltern haben sich nichts vorzuwerfen, seine Mutter hatte sogar einmal bei der Hausverwaltung angerufen, weil sie den Nachbarn, den sie eigentlich gar nicht kannte, so lange nicht gesehen hatte. Dort erfuhr sie, dass dessen Miete damals zumindest noch regelmäßig einging. Für die türkische Familie war der Fall damit erledigt. Cem Yaltirik zuckt die Achseln: „Hier geht sowieso alles den Bach runter.“

Die Nachtigalstraße, die Heide Simonis ihr landesweit bestes Ergebnis beschert hat, ist nicht die Kieler Bronx. Aber sie hat sich verändert seit den Tagen, als das Leben hier spielte wie sonst nur beim Preisskat eines SPD-Ortsvereins: so gemütlich, so verqualmt, so vertraut, dass sich keiner intellektuell fürchten musste und am Ende niemand leer ausging.

„Das hätte es hier früher nicht gegeben“, sagt Fritz Carstens, „dass einer zwei Jahre tot in seiner Wohnung liegt.“ Carstens ist 82. Er ist geboren auf dem Kieler Ostufer, hier hat er sein Leben verbracht, mit 14 aus der Volksschule, Maschinenschlosserlehre bei Howaldt wie schon der Vater und der Großvater, sechs Jahre deutsche Kriegsmarinewerft im besetzten Norwegen, danach bis zur Rente Gewerkschafter, vierzig Jahre lang, die letzten zwanzig freigestellt und mit Dienstwagen, einem schönen VW 1600.

Jetzt ist er zu Fuß ins Holsten Deel gekommen, die einzige Kneipe, die der Nachtigalstraße geblieben ist. Er soll ein Phänomen erklären: Ausgerechnet hier, im Stimmbezirk 136, dessen Herz die Nachtigalstraße ist, gingen bei der letzten Landtagswahl 77,1 Prozent der Erststimmen an Heide Simonis. Es war mit Abstand das beste Ergebnis für die Ministerpräsidentin innerhalb ihres Wahlkreises und für Schleswig-Holsteins SPD sowieso. Die Partei geht davon aus, dass die Nachtigalstraße ihr bereits gehört, wenn am 20. Februar ein neuer Landtag gewählt wird. „Recht hat sie“, ruft Fritz Carstens und hebt sein Kännchen Kaffee, auf die Nachtigalstraße sei schon immer Verlass gewesen, wo die Nachbarschaften über Jahrzehnte gewachsen, stabil und gewerkschaftsnah seien, da sei auch die SPD traditionell zu Hause! Er donnert so los, die blauen Augen hinter seiner Brille tanzen, und plötzlich wirkt sein märchenhaftes westdeutsches Wirtschaftswunderleben ganz real. Man kann sich vorstellen, wie er seinen Leuten im Betrieb früher eingeheizt haben muss: „Die Arbeitnehmer müssen zusammenstehen, um ihre Interessen durchzusetzen.“

Aber wenn man hinausguckt aus dem Holsten Deel, vorbei an der Theke aus Holzfurnier, vorbei an Männern mit gesenkten Blicken und zu vielen Bieren nachmittags um drei, dann stehen da draußen auf der Nachtigalstraße keine Menschen zusammen, dann ist es sehr leer, und das liegt nicht nur daran, dass es Januar in Kiel ist. Die backsteinroten Mietshäuser, im oberen Teil der Straße drei Stockwerke hoch und in geschlossener Blockrandbebauung errichtet, im unteren Teil zweistöckig und rechtwinklig zur Straße angeordnet, mit Sandkästen vor der Tür, Teppichstangen und einer Wiese, an die sich der nächste Wohnriegel anschließt und der übernächste und noch einer, stehen zu einem Drittel leer. Die Fenster sind dunkel, die Klingelschilder fehlen.

Die Straße, die Heide Simonis ihr landesweit bestes Ergebnis beschert hat, bauten die Nazis ab 1938 für die Beschäftigten der damals drei Kieler Werften auf dem Ostufer im Stadtteil Dietrichsdorf. 1.329 Werkswohnungen in sieben Straßen, die sie nach Männern benannten, die sich als Kolonialisten oder Forscher in Afrika einen zweifelhaften Ruhm erworben hatten. Der Arzt Gustav Nachtigal, geboren 1834, gestorben 1885, war einer von ihnen. Seine Straße war mal die heimliche Hauptstraße des Afrikaviertels, wegen der zentralen Lage und der Nähe zu den Werften, wegen des Tanzlokals an der Ecke, wegen der Fachärzte und des edlen Porzellanladens. Es gibt Fotos aus der Vorkriegszeit von Frauen im schicken Kleid beim Einkaufen.

Heute haben die Geschäfte zu kämpfen, denn auf der Werft arbeiten nur noch wenige. Die Menschen ziehen weg, sterben oder leben von der Sozialhilfe. Geblieben sind ein altmodischer Textilladen, eine Fahrschule, ein Tauchladen, ein Friseur, ein Reisebüro und ein Pizza-Service mit einem einzigen Plastikgartenstuhl für Gäste.

Und natürlich Orhans An- und Verkauf im Erdgeschoss der Nummer 2, gleich gegenüber vom Holsten Deel. „Aber was ist das denn schon“, ruft Halil Orhan und sieht sich in seinem Laden um, Stereoanlagen aus zweiter Hand stapeln sich da in Regalen neben Verstärkern für E-Gitarren, Videogeräten und einem Grabbeltisch voller alter Computerspiele. „Schrott ist das, gebrauchte Ware, ein Hobby!“ Ein Hobby, das er und seine Frau sich seit drei Jahren unfreiwillig und nach Feierabend leisten im Ladenlokal unter ihrer Wohnung, weil Orhans Lohn als Schiffbauer bei der Howaldtswerke-Deutsche Werft AG (HDW) für die vierköpfige Familie nicht mehr reicht.

Und Heide Simonis?

Halil Orhan zieht die Augen zu Schlitzen. 43 wird er dieses Jahr, mit 17 kam er aus der Türkei nach Kiel, fing bei HDW an, wollte etwas Besseres für seine Kinder und schickte sie aufs Gymnasium, interessierte sich für seine neue Heimat und nahm deren Staatsangehörigkeit an. Immerhin kann er da, wo er wohnt, die Ministerpräsidentin direkt wählen! Noch vor fünf Jahren hat er „der Heide“, wie er sagt, seine Stimme gegeben. Der Heide, die unter einem Sammeltick leidet, Hüte mag und Flohmärkte und zudem eine Kodderschnauze hat, eine ziemlich politische sogar. Orhan fand diese Kombination ein bisschen verrückt, aber cool. Aber jetzt ist Schluss. Jetzt fühlt er sich im Stich gelassen. „Das ganze Viertel haben sie plakatiert, aber sie tun nichts, in den letzten fünf Jahren ist hier nichts passiert, das Viertel ist tot.“ Zwei der drei Werften gesprengt, die Hell-Druckmaschinen in die USA verlagert, der Rollstuhl-Hersteller Ortopedia dicht, und selbst der Gemüseladen in der Nachtigalstraße ist pleite. Die Fachhochschule am Ufer wurde angesiedelt, angesiedelt dank Simonis’ Druck, na schön. Hat den Stadtteil aber auch nicht wiederbelebt, und die Kinder aus dem Afrikaviertel schaffen es sowieso nicht bis auf die Fachhochschule. Und das hat die SPD jetzt davon: Halil Orhan wird gar nicht mehr wählen gehen.

Er weiß, dass seine Verweigerung eine Drohung ist, die die SPD fürchtet wie kaum eine. Schon bei der letzten Landtagswahl ist in der Nachtigalstraße jeder zweite Wahlberechtigte zu Hause geblieben. 47,8 Prozent machten von ihrem Stimmrecht Gebrauch, so wenig wie sonst fast nirgendwo in Schleswig-Holstein. Die SPD hat sich vor ein paar Jahren sogar die Mühe gemacht zu testen, ob die Wahlbeteiligung in der Nachtigalstraße steigt, wenn sie vor der Wahl alle Haushalte persönlich besucht. Sie blieb aber genauso niedrig wie ohne Besuche. Das mit den Visiten sparen sie sich deshalb diesmal. Doch gerade ihre Stammwähler muss die Partei mobilisieren, wenn sie das Kopf-an-Kopf-Rennen mit der CDU in Schleswig-Holstein für sich entscheiden will.

An mangelnder Bekanntheit oder Sympathie für die Direktkandidatin liegt das Desinteresse nicht. Nach zwölf Jahren an der Macht kennen alle hier die Ministerpräsidentin, persönlich, vom Flohmarkt, aus dem Fernsehen oder wenigstens vom Erzählen. Alle. „Natürlich weiß ich, wer Heide Simonis ist.“ Ute Menck aus der Nachtigalstraße 12, die erst 42 ist, aber nur noch Backenzähne im Mund hat und gerade in Jogginghose, Schlappen und Strickjacke mit ihrem Dackel Johnny Walker Gassi geht, klingt fast beleidigt. Und dann sagt sie noch, dass sie andere Sorgen hat als eine Landtagswahl, ihre schlimmen Hände beispielsweise, an denen jedes Jobangebot scheitert, weil sie immer noch zittern, obwohl sie doch längst nicht mehr trinkt.

Wenn man den Menschen so zuhört in der Straße, die Heide Simonis ihr landesweit bestes Ergebnis beschert hat, dann fragt man sich irgendwann, wer außer dem Gewerkschafter Fritz Carstens am 20. Februar eigentlich noch zur Wahl gehen wird?

Heinrich Kraemer muss eine Antwort haben, ein Friseur weiß alles, und Heinrich Kraemer ist 57 und schneidet schon seit bald vierzig Jahren Haare in der Nachtigalstraße Nummer 6. Früher im Geschäft seiner Eltern, heute als sein eigener Chef, früher Haare von Werftarbeitern, heute Haare von ehemaligen Werftarbeitern, so einfach ist das. Er muss es wissen, er hört die Geschichten jeden Tag, er steht da in seiner schicken schwarzen Anzugweste, lässt die Schere durch die Luft fahren, fragt in den Spiegel, ob es heute ein bisschen kürzer sein darf, und schon erzählt der Kunde drauflos, und an den Lippen im Spiegel kann Heinrich Kraemer ablesen, was für eine Geschichte es wird. Bis vor ein paar Jahren haben die Geschichten Heinrich Kraemer oft traurig gemacht. Jetzt aber machen sie ihn wütend. „Man hat doch gedacht, das kann sich kein Land erlauben, so viele Arbeitsplätze abzubauen.“ Und dann hat die SPD sich das Undenkbare doch erlaubt, und die Leute in der Kieler Nachtigalstraße haben sie trotzdem weiter gewählt, aus Tradition, aus Verbundenheit, obwohl die SPD ihnen nunmehr schadete und sich um das Viertel kaum noch kümmerte, sagt der Friseur.

Er selbst weiß noch nicht, ob und für wen er stimmen wird. Der CDU-Kandidat ist schwach und eher was für Bauern, ganz rechts außen, das verbietet der Anstand, und die SPD – überfällig. Heide Simonis zum Beispiel. Lässt sich auf dem Ostufer zwar wählen, aber ihre Kieler Wohnung hat sie im schicken Kieler Westen, und auch das haben sie bislang klaglos hingenommen in der Nachtigalstraße: „Den Leuten hier fiel doch jahrelang gar nichts anderes ein, als SPD zu wählen“, sagt Heinrich Kraemer, „denen konnten Sie einen roten Hydranten aufstellen, und sie wählten ihn.“