piwik no script img

Archiv-Artikel

„Es entsteht eine Weltzivilgesellschaft“, sagt Leonardo Boff

Der große Wert von Porto Alegre liegt in der Vernetzung von Bewegungen – das gilt auch für die Befreiungstheologie

taz: Herr Boff, 2001 ist das Weltsozialforum als Kontrapunkt zum Weltwirtschaftsforum entstanden. Wenn wir uns heute die Welt ansehen: Hat Davos nicht klar die Oberhand über Porto Alegre behalten?

Leonardo Boff: In Davos geht es um materielle Werte, in Porto Alegre geht es um spirituelle, menschliche, ethische Werte. Ideal wäre, wenn beide zusammenkämen, dann könnten wir eine ganzheitliche Vision der Menschheit erarbeiten. Die Frage ist doch, wo liegt die Hoffnung? Alle spüren, dass wir auf einem Irrweg sind, weil wir überhaupt keinen Sozialvertrag mehr haben. Das führt nur zu Kriegen wie im Irak. Es gibt nur die militärische, wirtschaftliche und ideologische Hegemonie der USA, die mit Gewalt aufrechterhalten wird. Es ist ein sehr gefährlicher Weg, als Mittel zu irgendeiner Art von Weltordnung auf Gewalt zu setzen. Das System kann sich nicht mehr mit Argumenten durchsetzen.

Was ändert Porto Alegre daran?

Für niemanden ist klar, was die Alternativen sind. Aber hier in Porto Alegre entsteht allmählich eine Weltzivilgesellschaft mit dem Bewusstsein, dass wir nicht zufrieden sind mit der Lage der Welt, dass wir uns werden ändern müssen, angefangen bei den Personen bis hin zu den Gemeinschaften. Durch die Vernetzung von allen möglichen Bewegungen eröffnen sich neue Denkweisen, entstehen neue Ideen. Das setzt Energien frei. Allmählich kommen wir zu Konvergenzen, die politischen Druck bedeuten können.

Aber was kommt konkret dabei heraus?

Wir haben schon greifbare Ergebnisse erzielt, etwa in der Wasserfrage. Da ist eine gemeinsame Entscheidung möglich. Wir sollten einen globalen sozialen Vertrag über das Süßwasser fordern, und die Option gegen den Krieg. Bush hat den unendlichen Krieg gegen den Terror erklärt. Für mich bedeutet das: Die USA sind ein terroristischer Staat. Sie gehen gewalttätig vor, treten die Menschenrechte mit Füßen, foltern US-Amerikaner und Ausländer. Als Menschheit stehen wir an einem Scheideweg. Solche Reflexionen und Utopien wie in Porto Alegre sind der Humus, in dem die Dinge gären, und vielleicht entstehen daraus Maßnahmen, die eine Richtung für die Zukunft aufzeigen.

Vor dem Weltsozialforum hat hier ein fünftägiges „Weltforum für Theologie und Befreiung“ stattgefunden. Erleben wir gerade eine Renaissance der Befreiungstheologie?

Die Befreiungstheologie war immer da, aber zuletzt nicht mehr so sichtbar, weil sie nicht mehr so polemisch wie früher ist. Jetzt haben wir wieder die große Vernetzung der Theologen, die vom Vatikan aus völlig zerstört worden war. Das Umfeld des Weltsozialforums, ein säkularer Raum, war ideal, um uns wieder zu treffen, ohne irgendwelche Unterdrückung von Rom oder anderswoher. Außerdem haben wir bereits in den Siebzigerjahren von der Notwendigkeit einer anderen Gesellschaft, einer anderen Weltordnung, gesprochen. Es gibt also durchaus eine Verwandtschaft zwischen der Befreiungstheologie und dem Weltsozialforum.

Wie hat sich der Diskurs der Befreiungstheologie in den letzten 30 Jahren weiterentwickelt?

Sie ist ausgehend von der konkreten ökonomischen Situation entstanden, vom Schrei der Armen. In den Achtzigerjahren haben wir die verschiedenen Gesichter der Armut entdeckt, die der Indianer, der Schwarzen, der Frauen. In den Neunzigerjahren spürte man, dass nicht nur die Armen schreien, sondern auch das Wasser, die Wälder, die Tiere. Die Erde wird durch die außerordentliche Verwüstung unterdrückt, die die moderne Industriegesellschaft und der Konsumismus mit sich bringen. In eine integrale Theologie muss man also auch die Ökologie miteinschließen. Zugleich ist die Globalisierungsproblematik hinzugekommen, die große Ausgrenzung von Menschen, die Genmanipulation in der Landwirtschaft, das alles sind Fragen, die jetzt diskutiert werden.

Der Vatikan hat Sie ausgegrenzt, später haben Sie Ihr Priesteramt aufgegeben. Fühlen Sie sich in der Kirche manchmal unverstanden oder einsam?

Nein. Rom hätte es sicher gerne gesehen, wenn ich Coca-Cola-Manager in Rio geworden wäre. Aber ich hatte ja die Möglichkeit, weiter als Theologe zu arbeiten, und wurde dabei auch von den meisten Bischöfen unterstützt, eingeladen zu Vorträgen, Kursen, und sogar zu Exerzitien für Priester und Nonnen. Ich habe mich nicht grundsätzlich geändert oder eine Opferhaltung entwickelt, und ich empfinde auch keine Rachegefühle oder Enttäuschung. Das autoritäre System Kirche ist dazu verdammt, andere zu verdammen. Das gehört zu seiner Logik. Wenn man das verstanden hat, fühlt man sich befreit und sagt zugleich, schade, dass so mit dem Erbe von Jesus Christus umgegangen wird. Zugleich bestehen die Alternativen weiter, etwa die 100.000 Basisgemeinden. Wir haben bereits ein neues Modell von Kirche, ein gemeinschaftliches, nicht so hierarchisches Modell.

INTERVIEW: GERHARD DILGER