„Wachstum wird gegen Nachhaltigkeit ausgespielt“

Die grüne Europaabgeordnete Rebecca Harms kritisiert die EU-Kommission: Gerade Umweltschutz schaffe Arbeitsplätze. Überflüssige Regeln müssten aber abgebaut werden

taz: Frau Harms, wie beurteilen die Grünen im EU-Parlament die Neuauflage der Lissabon-Strategie?

Rebecca Harms: Wenn diese überarbeitete Version bedeutet, dass Brüssel nicht nur über strategische Ziele reden will, sondern die Lissabon-Strategie tatsächlich ernst nimmt und sich etwas bewegt, dann sind die Grünen natürlich dafür. Allerdings sind wir bestürzt, dass die Ziele Wachstum und Arbeit gegen Nachhaltigkeit und soziale Gerechtigkeit ausgespielt werden.

Angesichts der Arbeitslosenzahlen ist es doch verständlich, dass die Kommission ihren Schwerpunkt auf die Schaffung von Jobs legt. Warum ist Ihnen in diesem Zusammenhang die Umweltpolitik so wichtig?

Da ist zum Beispiel der Aktionsplan für Umwelttechnologien. Die Zahlen sprechen für sich: Die EU hat in diesem Sektor einen Anteil von 30 Prozent am Weltmarkt. Das sind jährlich 180 Milliarden Euro. Und jedes Jahr wächst dieser Anteil um fünf Prozent. Hier entstehen neue Arbeitsplätze. Wenn da Verheugen oder Barroso sagen, eine ehrgeizige Umweltpolitik stünde dem Wachstum entgegen, widerlegen sie diese Behauptung mit ihren eigenen Zahlen.

Wachstum und Nachhaltigkeit gehören also zusammen?

Natürlich. Ein gutes Beispiel ist die aktuelle Diskussion über REACH, die neue Chemie-Richtlinie. Ich halte das Ziel, alle gefährlichen Chemikalien zu erfassen, sie vom Markt zu nehmen und zu ersetzen, für wichtig. Das wäre wirkliche Innovation und würde der EU zu einer führenden Stellung auf dem Weltmarkt verhelfen. Die Chemie-Industrie kämpft gegen die Anforderungen. Wir werden in den nächsten Monaten harte Auseinandersetzungen haben. Aber es ist nicht zeitgemäß, einen industriepolitischen Weg einzuschlagen, der uns in die 80er-Jahre zurückkatapultiert.

Haben Sie weitere Vorschläge?

Einige Staaten kombinieren schon jetzt sehr erfolgreich den Wunsch nach Arbeitsplätzen mit Umweltpolitik und Nachhaltigkeit. Ich denke da vor allem an die skandinavischen Staaten. Aber das sind meistens auch Länder, in denen besonders ehrlich und gern Steuern bezahlt werden.

Die Sozialisten kritisieren am Barroso-Papier, dass das Soziale zu kurz kommt. Sehen Sie das genauso?

Natürlich müssen wir in den Mitgliedstaaten über strukturelle Reformen der sozialen Sicherheitssysteme reden. Aber ich bin davon überzeugt, dass das europäische Modell, das auf Solidarität aufgebaut ist, das richtige ist. Und es gibt den Bürgern – gerade in Zeiten der Globalisierung – Sicherheit. Ich bin völlig dagegen, Wege einzuschlagen, die zu Sozial- und Lohndumping führen.

Ein Anliegen der Lissabon-Strategie ist die Reduzierung von Bürokratie. In diesem Bereich ist die EU-Kommission zuständig. Hat sie bisher versagt?

Ich finde diese schlichte Forderung unangenehm und zum großen Teil auch populistisch. Natürlich gibt es hier viel Papier, aber es ist auch sehr viel interessantes Papier dabei. Es stimmt allerdings, dass auch auf europäischer Ebene überflüssige Regelungen abgebaut und Widersprüche aufgehoben werden müssen. Gerade in der Umweltpolitik gibt es unglaublich viele Widersprüche. Die EU-Kommission fordert zum Beispiel mehr regenerative Energien, und gleichzeitig werden in den Mitgliedstaaten fossile Energien subventioniert. Das passt nicht zusammen. Wir stehen weiterhin zu den Zielen der Lissabon-Strategie, aber streiten über die Wege. Wir wollen mehr nachhaltiges Wachstum, und es muss endlich alles dafür getan werden, das auch zu erreichen.

INTERVIEW: RUTH REICHSTEIN