: Der Gegner ist die Realität
Nach dem Rekordhoch hofft Rot-Grün jetzt auf gute Nachrichten am Arbeitsmarkt. Die sind tatsächlich möglich – statistisch
AUS BERLIN ULRIKE HERRMANN
5,037 Millionen Arbeitslose hat die Bundesagentur für Arbeit gestern gemeldet – im Dezember waren es erst knapp 4,5 Millionen. Doch Wirtschaftsminister Wolfgang Clement gab sich gestern unbeirrt optimistisch und versprach erneut, die Arbeitslosenzahl um 15 bis 20 Prozent zu senken. Er empfahl, „nicht in Schockstarre zu verfallen“.
Clements Kalkül in der Not ist klar: So unerfreulich die Zahl 5 Millionen wirkt – zumindest definiert sie das Erfolgskriterium neu. Ab jetzt werden alle Arbeitsmarktdaten wie eine gute Nachricht wirken, die den magischen Eckwert der 5 Millionen unterschreiten. Und solche Nachrichten werden sich produzieren lassen. Zwar rühmt sich Clement, dass die Arbeitslosenzahlen erstmals „transparent“ seien – tatsächlich aber bieten sie weiter viel Gestaltungsraum.
Noch schlicht ist der Konjunktureffekt: 346.000 Arbeitslose lassen sich momentan saisonal erklären, weil Landwirtschaft, Bau und Touristikfirmen ihre Mitarbeiter im Winter nicht benötigen. Sie werden im Frühjahr wieder Jobs finden.
Wichtiger: Was die Statistik im Januar nach oben trieb, lässt sich auch wieder nach unten korrigieren. Seit Jahresbeginn schnellte die Zahl der Arbeitslosen plötzlich um „mindestens“ 222.000 hoch, weil nun auch ehemalige erwerbsfähige Sozialhilfeempfänger erfasst werden, die sich früher nicht arbeitslos gemeldet haben. Diese Gruppe dürfte sich im Februar um weitere „30.000 bis 40.000“ erwerbsfähige Sozialhilfeempfänger erweitern. Denn 69 Kommunen haben „optiert“ und betreuen ihre Langzeitarbeitslosen allein – doch keiner weiß, wie viele eigentlich. Bisher ist es nicht gelungen, die Computersysteme der Gemeinden und der Bundesagentur zu vereinen.
Wie auch immer: Das entscheidende Wort. um die Statistik erfreulicher zu gestalten, lautet „erwerbsfähig“. Bisher fehlte die Zeit, um zu überprüfen, ob die ehemaligen Sozialhilfeempfänger tatsächlich in der Lage sind, einer Arbeit nachzugehen. Im Verwaltungschaos „war wichtig“, so die Bundesagentur, „dass jeder Arbeitslose auch sein Geld bekommt“. Das dürften viele Kommunen genutzt haben, um ihre Ärmsten ins Arbeitslosengeld II abzuschieben, das – anders als die Sozialhilfe – vom Bundeshaushalt gezahlt wird. „In den nächsten Monaten“, so kündigt die Bundesagentur an, werde aber strenger kontrolliert.
Ein Korrekturpotenzial bieten auch die 1-Euro-Zusatzjobs. Wer 15 Stunden pro Woche arbeitet, gilt nicht mehr als erwerbslos. Bisher haben nur knapp 75.000 Arbeitslose einen solchen Zuverdienst – dieser neue Beschäftigungssektor soll jedoch bis Jahresende auf 600.000 ausgedehnt werden. Noch unabsehbar ist, wie sich jene rund 300.000 Langzeitarbeitslosen verhalten, die kein Arbeitslosengeld II bekommen, weil ihr Partner zu viel verdient. Einige dürften darauf verzichten, sich weiterhin arbeitslos zu melden – wenn ihnen dadurch keine Nachteile etwa bei der Rente entstehen.
Nur ein Gegner kann Clement wirklich gefährlich werden: die Realität. Manchmal lässt sie sich selbst durch kunstvolle Statistik nicht verbergen, und die erkennbaren Trends sind bedrohlich.
Im letzten Jahr wuchs die Wirtschaft um 1,7 Prozent, das ist ganz ordentlich. Dennoch stagnierte die Arbeitslosigkeit, wenn man die Zahlen um alle statistischen und saisonalen Effekte bereinigt. Für 2005 sagen die meisten Experten jedoch eine deutlich niedrigere Wachstumsrate voraus.
Beunruhigend ist auch eine andere Zahl, die das Bundesamt für Statistik gestern veröffentlichte: Im November 2004 gab es zwar 38,96 Millionen Erwerbstätige und damit 271.000 mehr als ein Jahr zuvor. Doch auch dieser Anstieg ist nur ein statistischer Boom, erzeugt durch Minijobs und Ich-AGs. Tatsächlich sank die produktive Beschäftigung; nur noch 26,75 Millionen Menschen hatten eine sozialversicherungspflichtige Stelle. Das waren 337.000 weniger als noch ein Jahr zuvor. Wie gesagt: obwohl die Wirtschaft um 1,7 Prozent wuchs. Wenn die Konjunktur tatsächlich nachlassen sollte, wird man sich noch mit Rührung daran erinnern, dass Clement bereits bei 5 Millionen Arbeitslosen vor einer „Schockstarre“ gewarnt hat.