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Archiv-Artikel

In Einzelhaft mit Kind

FAMILIE Monatelang sich ganz dem eigenen Neugeborenen widmen zu dürfen ist unvergleichlich und manchmal ziemlich ätzend – wer das aber offen ausspricht, eckt vielerorts an. Ein Erfahrungsbericht

Literatur zum Thema

Maria Sveland: „Bitterfotze“. Kiepenheuer & Witsch, 2009, 272 Seiten, 8,95 Euro

■ Cornelie Kister: „Mütter, euer Feind ist weiblich! Wie Frauen sich gegenseitig das Leben zur Hölle machen“. Eichborn Verlag, 2007, 127 Seiten, 12,90 Euro

■ Barbara Vinken: „Die deutsche Mutter. Der lange Schatten eines Mythos“. Fischer Taschenbuch, 2007, 272 Seiten, 12,95 Euro

■ Herrad Schenk: „Wieviel Mutter braucht der Mensch? Der Mythos von der guten Mutter“. Rowohlt Taschenbuch, 6. Auflage, 2005, 237 Seiten, 7,90 Euro

■ Shari Thurer: „Mythos Mutterschaft“. Droemer Knaur, 1997, 509 Seiten, im Antiquariat

VON KERSTIN GRIESSMEIER

Die Mütter sitzen im Kreis, in der Mitte spielen ihre Kleinen, krabbeln umher, untersuchen die Spielzeuge, ziehen sich an den Haaren. Auch Kathrin sitzt mit in der Runde, obwohl ihr Sohn Theo weder krabbeln noch sitzen kann. Er ist auch erst drei Monate alt. Kathrin kommt trotzdem jede Woche mit ihm in die Krabbelgruppe, der Abwechslung wegen – nicht für Theo, sondern für sich selbst. „Zu Hause fällt mir die Decke auf den Kopf“, sagt sie. Die anderen nicken verständnisvoll.

Dieses Gefühl kennen viele Frauen, die sich während der Elternzeit ausschließlich ihrem Baby widmen: Das Kind und die ausschließlich ihm gewidmeten, oft „Kuschelzeit“ genannten Monate waren sehnlich erwünscht. Dass der Familienzuwachs mit vielen Einschränkungen verbunden sein würde, war klar, und obwohl man sich vorab ausführlich über alle relevanten Fragen informiert hat, kommt die Erfahrung, wie endlos lang und erdrückend ein Tag sein kann, an dem die Hauptaufgabe lautet: „Erfülle die Bedürfnisse deines Kindes!“, trotzdem unerwartet.

Großfamilien, in denen Kinder selbstverständlich von mehreren Erwachsenen betreut werden, was der Mutter ab und zu eine Auszeit ermöglicht, gibt es kaum noch. Verlässliche Babysitter müssen mühsam gesucht werden, wenn die eigenen Verwandten weit weg wohnen. So kann sich die Brutpflege im ersten Jahr für Mütter an anstrengenden Tagen wie eine zehn- bis zwölfstündige Einzelhaft mit Kind anfühlen, ein „Vollzeit-Job“ im wahrsten Sinne des Wortes: In Extremphasen, etwa wenn das Kind stark fremdelt, ist manchmal nicht einmal der Gang zur Toilette von der permanenten Zweisamkeit ausgenommen.

Die Zeit mit Baby ist schön, bereitet unvergessliche Momente und bedeutet trotzdem oft soziale Isolation, in der manchmal der Smalltalk mit der Kassiererin beim Windelkauf zum einzigen persönlichen Gespräch des Tages mit einem Erwachsenen wird. Ausflüge mit Kind bedeuten – auch wenn sie nur in den nächsten Supermarkt führen – oft einen großen logistischen Aufwand: Das Timing muss Still-, Wickel- und Schlafrhythmus bedenken; die Kindersicherheit des Zielorts und der barrierefreie Zugang zu öffentlichen Verkehrsmitteln müssen berücksichtigt werden; und je nach Witterung kann das bei vielen Babys verhasste Anziehen unförmiger Jacken oder Overalls schon zur ersten Stresssituation werden.

Zudem muss häufig das Selbstbild überdacht werden: Wo vorher intellektuelle Fähigkeiten zählten, werden jetzt emotionale und auch körperliche Belastbarkeit auf die Probe gestellt. Draußen scheint die Welt vorbeizuziehen, während frau sich dabei ertappt, auf Dinge stolz zu sein, die ihr vorher banal schienen: Das gemeinsame Mittagessen verläuft jetzt so, dass die Mutter auch etwas essen kann, die Wickeltechnik des Tragetuchs klappt im Halbschlaf und den Pyjama bekommt der oder die Kleine unbemerkt während des Stillens angezogen – Fähigkeiten, auf die man kaum öffentlich stolz sein kann, wo doch in „der Welt da draußen“, der Welt, die sich nicht um die Bedürfnisse eines Babys dreht, vor allem Flexibilität gefragt scheint.

Dass die in der Elternzeit angeeigneten Fertigkeiten von der Außenwelt kaum honoriert werden, bestätigt auch Diplom-Pädagogin Regina Heimann vom weiterbildenden Studiengang Frauenstudien der Universität Bielefeld. „Wer für die Familienarbeit aus dem Beruf aussteigt, verliert Qualifikation, zwar nicht auf dem Papier, sondern für den Arbeitsmarkt. Je tiefer eine Frau in die Familienarbeit eintaucht, desto schwieriger wird es, in die Arbeitswelt zurückzukehren. Viele Frauen erleben diese Welt nur noch als Zuschauer – wenn der Mann abends nach Hause kommt und davon erzählt.“ Der Studiengang Frauenstudien wendet sich an ebenjene Frauen, die mit den Kindern zu Hause blieben, und vermittelt Anknüpfungspunkte zur Berufs- und Studienwelt für die erfahrenen „Familienarbeiterinnen“ – mit einer theoretischen Komponente, welche die Frauen nachweisen können. Denn „die in der Familienarbeit erlernten Qualifikationen sind informell erworben und sind nicht zertifiziert“, so Heimann.

In der Welt „da draußen“ – außerhalb von einschlägigen Internetforen, wo „www“ für Wegwerfwindeln und „MSR“ für Milchspendereflex steht – ist es jedoch fast schon ein Tabu, sich offen über die Schattenseiten der Elternzeit zu beklagen und zu äußern, wie ätzend das Nur-zu-Hause-Bleiben mit dem Wunschkind manchmal sein kann. Wer negative Gefühle im Zusammenhang mit dem eigenen Kind äußert, passt einerseits nicht in das idealisierte gesellschaftliche Mutterbild und macht andererseits die eigene Entscheidung, Mutter zu werden und ein Kind nach bestimmten Ansprüchen großzuziehen, angreifbar. „Normale Mütter“ mit emotionalen Höhen und Tiefen kommen öffentlich kaum vor. Es scheint nur Supermamas und Horrormütter zu geben. Die Klatschpresse macht aus jeder Promi-Geburt „Babyglück“, und wenn „Brangelina“ Kind Nummer fünf und sechs bekommen, läuft das freudige Ereignis auf allen Kanälen. Wenn in den USA eine Frau Achtlinge bekommt, wird das als medizinisches Wunder präsentiert, die Pläne der Mutter, alle zu stillen und bald ein Studium zu beginnen, als Beweise für Mutterliebe und Tatkraft gefeiert.

Selbst die öffentliche Selbstdarstellung von Familienministerin Ursula von der Leyen, die sich auf die Fahnen geschrieben hat, das Muttersein aufzuwerten, degradiert dies zur locker mitlaufenden Nebenrolle: Von der Leyen hat beruflich als Medizinerin und Politikerin viel erreicht und zieht scheinbar ganz selbstverständlich sieben Sprösslinge und diverse Vierbeiner groß, wie aus öffentlichen Einblicken ins Familienalbum ersichtlich wird. Ganz selbstverständlich vermeldet sie, sich auch noch um ihren kranken Vater zu kümmern.

Wie weit solche Lebensentwürfe von der Realität der meisten anderen Mütter entfernt sind, stellt auch die Diplom-Pädagogin Heimann klar: „Wir müssen uns kritisch mit unseren Rollenbildern auseinandersetzen“, fordert Heimann, die problematisch findet, wenn öffentlich vermittelt wird, Kindererziehung sei zusätzlich zum Beruf nebenbei zu schaffen. „Das ist eine Illusion. Für Wohlhabende ist es einfacher, die können sich Kindermädchen leisten, deren Einsatz wird jedoch kaum öffentlich gemacht.“ In ihrer Arbeit hat sie hingegen die Erfahrung gemacht, dass „sich die meisten entscheiden müssen. Selbst wenn sie berufstätig sind, wird ein Aufgabenfeld im Vordergrund stehen, meist ist das die Familie.“

„Normale Mütter“ mit emotionalen Schwankungen darf’s nicht geben, nur Supermamas oder Horrormütter

Und für dieses Aufgabenfeld trägt die Mutter in der Öffentlichkeit die volle Verantwortung: Neben den „Supermüttern“ prägen nämlich die „Horrormütter“ die Schlagzeilen. Die Kinder sterben in schlimmster Verwahrlosung oder müssen vom Jugendamt gerettet werden, wie am Samstag in Berlin – wo Polizeibeamte zwei Kinder aus völlig verdreckten Wohnungen holten. Zudem fehlt in kaum einem Beitrag über Serienmörder der Verweis auf dessen Mutter, die vermeintlich mit einer verkorksten Beziehung die Weichen für spätere Entgleisungen stellte, wie etwa im Fall des „Kannibalen von Rotenburg“, dessen Mutterbeziehung in vielen Darstellungen zum einzigen Grund für sein Verbrechen gemacht wurde.

Fernab solcher Extremfälle ist es eigentlich nahe liegend, sich bei Menschen auszuheulen, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben: den Großeltern des eigenen Kindes, doch die haben nicht immer Verständnis, vor allem wenn hier gegenteilige Erziehungsansichten aufeinanderprallen. Statt Solidaritätsbekundungen werden unter dem Motto „Mach es dir doch nicht so schwer“ Maßnahmen empfohlen, die angesichts heutiger Ansprüche, sich an den Bedürfnissen des Kindes zu orientieren, brutal wirken: zum Abendessen den Bauch voll stopfen, Schreienlassen zum Schlafenlernen und der möglichst frühe Beginn mit „richtigem Essen“, anstatt sich nach den Entwicklungsschritten des Sprösslings zu richten. Die Ratschläge scheinen zu sagen: „Selber schuld, wenn es dir nicht gut geht“, und führen zu der absurden Situation, die eigene Lage zu verteidigen, obwohl diese gerade unerträglich erscheint.

Diese Verteidigungssituation kann sich auch gegenüber kinderlosen Freunden und Bekannten oder Kollegen einstellen. „Das wusstest du doch vorher“, heißt es da – und hierauf zu widersprechen, wäre, rein sachlich betrachtet, eine Lüge. Klar wusste man vorher, dass Gespräche eintönig werden können, wenn der Gesprächspartner nur „Agü“ und „Eideidei“ formulieren kann, dass kindliche Schlafrhythmen sich von denen Erwachsener unterscheiden und dass nicht alle Busse und Bahnen mit dem Kinderwagen befahrbar sind – schon im Geburtsvorbereitungskurs werden schließlich alle Eventualitäten von der Wochenbettdepression über Wege zurück zur Ausgangsfigur bis hin zur Veränderung des Sexlebens erörtert – aber eben nur in der Theorie!

Was in der rationalen Vorbereitung oft zu kurz kommt, ist die Erkenntnis, dass das Leben mit Kind neben vielen Höhen eben auch Tiefen hat – allen vermeintlichen Supermüttern zum Trotz. Und das sollte frau auch äußern dürfen, ohne dass ihr Kind dadurch in den Augen des Gegenübers zum späteren Serienkiller oder beziehungsunfähigen Soziopathen in spe wird. Also, warum nicht einfach mal Dampf ablassen und der Rentnerin, die sich über das ausnahmsweise mal schlafende Kind im Kinderwagen beugt und verzückt in Erinnerungen von damals, als ihre „Kinder noch klein waren“ schwelgt, entgegnen: „Jetzt mal ehrlich – manchmal war’s auch ganz schön scheiße, oder?“