Der Wandel von Dr. Jekyll zu Mr. Hyde und zurück

Der Jeck ist eine Sonderform des Kölners, sozusagen die autosuggestive Variante. Jeder will doch mal so sein, wie er wirklich ist. Die Leistung des Kölner Karnevals ist die, dass man als Freigänger seiner selbst auf Knasturlaub mit sich selbst als Bewährungshelfer aus sich herausgelassen wird. Eine Polemik

VON HEINRICH PACHL

Ich bin kein echter Kölner, aber in Köln wohnhaft, und das im wahrsten Sinn des Wortes. Vor allem in Wohnhaft während des Kölner Karnevals, und das im wahrsten Sinne des Schwachsinns, der hier Frohsinn heißt und den Nicht-Kölner sehr sehr quälen kann. Aber diese Vereinigung von Frohsinn und Schwachsinn ist in der Lage, chemische Prozesse in Gang zu setzen, die im Gefühlsleben und Gemütszustand besondere Ergebnisse zeitigt. Und das Spitzenprodukt dieser Stimmungsproduktion ist zweifelsohne der Jeck. Oft kopiert und nie erreicht. Aber wat is ene Jeck, wenn jeder Jeck anders ist.

Da muss man ganz klein anfangen. Denn der Kölner ist ein gewiefter Raffinülles, der sein Brauchtum gut zu verstecken weiß. Im Unterschied zum Indio am Amazonas, der sein Brauchtum versteckt, was aber die Forscher und Developer neugierig macht und die dann den Indiostamm entdecken und zivilisieren, bis bald vom alten Brauchtum nichts mehr übrig ist.

Der Kölner macht es anders, geradezu umgekehrt. Er schüttet den Abschaum seines Brauchtums ins Fernsehen, so dass jeder normal empfindende Durchschnittsbürger Ekelpickel und Herpes bekommt, wenn er im Frühjahr den Fernseher anknipst und die Alaaf- und Tusch-Tiraden, egal wo er hin zappt, erleben muss, dass ihm Hören und Sehen vergeht. Der Kölner schichtet also um sein eigentlich Brauchtum einen Ekelwall, so wie die Waberlohe, die man aus der Nibelungensage kennt. Und dahinter verbirgt er sein eigentliches Brauchtum: jeck zu sein.

Der Jeck ist die Sonderform des Kölners, die autosuggestive Variante. Der Jeck ist eine Illusion, die auf einem Überfluss an Schunkeln und Kamelle zurückzuführen ist. Der Wandel von Dr. Jekyll zu Mister Hyde und zurück auf harmlose Art. Denn jeder will doch mal sein, wie und was er will, also so sein, wie er eigentlich wirklich ist, dieses aber weniger als selten schafft, weil er es nicht kann oder jede Menge Knüppel in den Weg geschmissen kriegt, und sich schon Montag, zu Beginn der Arbeitswoche, fragt, warum haben wir nicht Freitag, denn auch diese Tage werden‘s nicht bringen, wo der Mensch aber doch aus sich raus möchte.

Und vor allem darum geht es im Kölner Karneval: Ob so etwas geht, ob es also geht, sich mit allem, was dazu gehört, also zu einem selbst, sich also aus dem Gefängnis des eigenen Alltags herauslassen? Und das ist eine Leistung des Kölner Karnevals, dass das geht, und das muss man vor Ort hier in Köln erleben, wie das funktioniert, wie man als Freigänger seiner selbst auf Knasturlaub sozusagen mit sich selbst als Bewährungshelfer aus sich rausgelassen wird. Wo ich so sein kann, wie ich wirklich bin, also nicht wie ich normalerweise in den peinlichen Pleiten des Alltags aussehe, sondern wie ich tatsächlich bin, wenn ich mich einmal ausnahmsweise gut und toll finde, jene seltenen aber schönen und begeisternden Momente, die jeder von sich kennt, wenn man mit Stolz und guter Laune sagen kann, so bin ich doch eigentlich tatsächlich. Ich bin jetzt gerade mal mein echtes Ich, auf das ich stolz sein möchte und an dem ich richtig Freude habe, und das, so viel ich schlucken kann. Und zu diesem anderen „ich“ sagt der Kölner im Karneval nicht alter ego, sondern Jeck. Oder „jecken Ditz!“

Und da freut man sich, da wird geputscht, und zwar aus dem Gemüt heraus. Der kleine Mann auf der Straße und die kleine Frau an der Theke ergreifen die Macht und lachen und lügen sich eine knappe Woche so kompakt in die Taschen, dass es fast für das ganze Jahr reicht. Und der Gegner in der Politik oder Feind in der Familie oder Nachbarschaft wird nicht gesucht, gejagt, gevierteilt, sondern durch mich selbst dargestellt und im Rosenmontagszug von mir selbst durch die Stadt geführt: als Hunnenhorde, kölsche Afrikaner, Kümmeltürken, ein Aufmarsch der Arbeitslosen, Entbehrlichen, Unnötigen und Überflüssigen, ein Traditionsverein der Verdammten, Verdummten und Verdötschten, eine Clique der Quotenbringer im Dachverband der Verkupferten und Verkabelten, die Kurdenkohorte, die Zunft der Aussiedler und Asylanten, die Rotte der Russenmafia oder die Polenbanditen, die Stusstruppen der Steuerflüchtlinge und Gilde der Globalplayer, die Schwarzgeldindianer vom Mandantenstamm der Zinsfußapatschen, der Präsident der totalen Lauschangreifer, die Politpajasse im Kostüm von Schramma und Börschel.

Da geht Wahnsinn in Wirklichkeit über und ömjedrieht. Mer trinke aus meiner Flesch und zahle us deiner Tesch. Ob krank oder alt, ob arm oder reich – im Karneval sind alle gleich. Denn was ist flüssiger als Kölsch im Glas? Der Jeck. Denn der ist hyperflüssig, also Überfluss, und das ist Luxus, den man genießen sollte. Und wenn nit, könnte man sich immer noch selber als Nubbel für den Aschermittwoch afbrenne. Also der Jeck ist insgesamt ein Workshop im Zusammenleben ohne Arbeit – außer Saufen, feiern und fantastischen anderen Sachen – in der ganzen Stadt, bis der Anfall vorbei ist.