piwik no script img

Archiv-Artikel

„Freifahrten nur für Lehrer“

Was ist touristisch, was pädagogisch wertvoll? Ein Gespräch über Inhalt und Destination von Schulreisen – und den Streit ums Geld

reise.mag: „Schülerreisen verkommen zum Pauschaltourismus“, wetterte ein Nachrichtenmagazin. „Die Nächte auf solchen Fahrten sind für die SchülerInnen das eigentlich Interessante“, klagte ein Lehrer. Sind Klassenfahrten reine Spaßtouren?

Uwe Flügel: Nein, das sind sie nicht. Jede Klassenreise hat pädagogische Aspekte. Der wesentliche ist, dass Schüler sich in einer anderen Lebenssituation gegenseitig kennen lernen. Die Ausnahme sind Abi-Fahrten. Da hat keiner etwas gegen eine Spaßtour, da will man auch mal feiern.

Côte d‘Azur, Mallorca, Südtirol: Müssen solch „exotische“ Ziele sein?

Sie müssen nicht zwingend sein. Aber der Skiurlaub in Südtirol oder Österreich realisiert doch schulische Inhalte. Es gehört zum Lehrstoff jeder Schule, Sekundarstufe I und II, dass auch Skikurse durchgeführt werden.

Welches sind denn die beliebtesten Klassenziele?

Nach wie vor die innerdeutschen Ziele, vor allem Berlin zur Vermittlung geschichtlich-politischer Bildungsaspekte. Immer noch gefragt ist Italien, zunehmend im Blickpunkt ist Osteuropa. Besonders Polen ist ein preiswertes Ziel mit hohem Service.

Wie groß ist der Markt der Klassenreisen?

Nach Veröffentlichungen des BundesForums Kinder- und Jugendreisen verreisen jährlich circa zwei Millionen Schüler im Rahmen einer Schulfahrt und geben etwa 300 Millionen Euro aus, das heißt 150 Euro pro Schüler.

Früher organisierten Lehrer die Klassenfahrt allein, heute übernehmen Lehrer gerne Angebote kommerzieller Schulreiseveranstalter. Sind die Lehrer zu bequem geworden?

Nein, aber den Lehrern sind zunehmend Verbraucherschutz und Vertragssicherheit wichtig. Sie haben im Reiseveranstalter nur einen Ansprechpartner, der für viele Leistungen auch in anderen europäischen Ländern nach deutscher Rechtsprechung haftet. Zusätzlich können Veranstalter bei Unterkünften und Busunternehmen andere Preise durchsetzen, als es der einzelne Lehrer könnte.

Das Bundesarbeitsgericht entschied im Herbst 2003, dass Lehrer die Kosten für eine Klassenfahrt erstattet bekommen müssen. Welche Auswirkungen hat dieses Urteil?

Das bedeutet einerseits, dass ein Lehrer nicht mehr schriftlich auf die Erstattung der Reisekosten verzichten darf. Andererseits verlangen fast alle Bundesländer von jedem Lehrer, dass er vom Veranstalter einen Freiplatz in Anspruch nehmen muss zur Minimierung der Kosten des Landes. Das führt zur Verteuerung der Reisepreise, weil die Kosten für den Lehrer indirekt auf die Schüler umgelegt werden. Ursprünglich wurden aber Freiplätze – wir vergeben seit 1992 für jede elfte Person einen – für sozial schwache Schüler vergeben.

Klassenfahrten dauern statt früher sieben heute oft nur noch fünf Tage. Haben die Lehrer keine Lust mehr, das Wochenende zu opfern?

Eine Klassenfahrt ist für Lehrer ein harter 24-Stunden-Job. Aber das ist nicht der Grund. Viele Lehrer beklagen, dass es immer schwieriger wird, die Eltern wegen der Kosten von einer Klassenreise zu überzeugen. Erstmalig kann zum Beispiel meine Frau mit ihrer sechsten Grundschulklasse in diesem Jahr keine Fahrt durchführen, weil die Eltern die Reisekosten von 150 bis 200 Euro nicht tragen können.

INTERVIEW GÜNTER ERMLICH