: Chesnot lebt. Wieder
AUS PARIS DOROTHEA HAHN
Ein Mann hat ihm an diesem Morgen auf die Schulter geklopft. Wieder einer dieser wildfremden Menschen, die ihn auf der Straße ansprechen, als gehöre er zu seiner Familie. „Bravo!“, hat der Mann gesagt. Und: „Ich habe für euch geweint.“
Christian Chesnot erzählt das im Café, ein paar Schritte von seiner Wohnung in Paris entfernt. Der 38 Jahre alte Reporter weiß, dass sich ganz Frankreich Sorgen gemacht hat in den vier Monaten, als er gefangen war. Manchmal fühlt er sich „richtig schuldig“ deswegen. Er ist sicher, dass er bis zum Ende seiner Tage die „Exgeisel aus dem Irak“ bleiben wird. Und weiß zugleich, dass seine Popularität nicht von Dauer sein wird. Eine andere Exgeisel, ein Mann, der in den 80er-Jahren im Libanon gefangen war, hat ihn gewarnt: „Am Anfang bist du Gott. Dann nervst du. Dann wirst du vergessen.“
Der Tag, an dem er verschwand, war der 20. August 2004, ein heißer Hochsommertag im Irak. Zusammen mit seinem Kollegen Georges Malbrunot und dem syrischen Chauffeur Mohammed al-Joundi will er in die Stadt Nadschaf fahren. Unterwegs fallen sie in die Hände der „Islamischen Armee des Irak“, die von sich selbst behauptet, 17.000 bewaffnete Kämpfer zu haben. Für die beiden Journalisten beginnt ein Albtraum. 124 Tage lang werden sie von einem Versteck ins nächste geschleppt. Ihre Gesprächspartner sind vermummte Männer. Und andere ausländischen Geiseln, von denen mehrere geköpft werden. Von ihrem Fahrer werden die beiden Franzosen getrennt. Auch er bleibt monatelang Geisel.
Die Franzosen lernen die Gesichter ihrer Geiseln im Fernsehen kennen. Auf einem Video, das auf dem Umweg über den Sender al-Dschasira nach Frankreich kommt, fleht Chesnot Frankreichs Staatspräsidenten an: „Schaffen Sie das Kopftuchverbot an den Schulen ab. Andernfalls bleiben uns nur noch wenige Tage.“ In Frankreich, wo gerade das Schuljahr beginnt, in dem das Verbot erstmals wirksam wird, erschüttern die Bilder Millionen Zuschauer. Für die Geiseln ist die Realität noch beängstigender. Während er vor der Kamera spricht, hört Chesnot einen Entführer im Off flüstern: „Falsch! Euch bleiben keine Tage mehr. Nur noch Stunden.“
Seit einem Monat und zwei Wochen ist Chesnot zurück in Paris. Die Exgeisel ist kaum wiederzuerkennen. In der Gefangenschaft hat er 13 Kilo abgenommen. Um seine Augen ist Lächeln. Und im Gegensatz zu dem Video spricht er so schnell, als wollte er sich selbst überholen. Gleich nach der Befreiung, auf dem Rückflug hat ein Psychologe ihm gesagt: „Sprechen tut gut.“ Daran hält er sich. Er erzählt, was ihm widerfahren ist. Genießt seine Berühmtheit. Sagt: „Die kleinen Sorgen des Alltags zählen jetzt weniger.“ Schon nach wenigen Minuten geht er zum Du über. Im Gespräch berührt er sein Gegenüber manchmal freundschaftlich. Wenn er auf Kenner des Nahen Ostens trifft, schwärmt vom Essen in der Region. Von arabischem Jazz. Von der Literatur. Aber dort leben, will er vorerst nicht mehr. Er wird in Paris bleiben. Und eine Familie gründen. Im Frühling wird ein Buch erscheinen, in dem er und Malbrunot über ihre Gefangenschaft berichten. Danach werden beide Männer feste Stellen antreten. Anderen Journalisten rät Chesnot von längeren Aufenthalten im Irak ab: „Zu gefährlich.“ Das sagt er auch bei Solidaritätsveranstaltungen für Florence Aubenas. Die Reporterin der Zeitung Libération ist seine Nachfolgerin im Irak. Sie verschwand dort am 5. Januar.
In der Gefangenschaft ist für Chesnot die Zeit stehen geblieben. In Paris stirbt Palästinenserchef Arafat. In den USA wird Bush wiedergewählt. Er erfährt es nur von den Entführern. Sie treten mit Gesichtsmasken vor ihre Opfer. Einmal sperren sie zwei Mazedonier mit den Franzosen in eine Hütte auf einem Bauernhof. Morgens kräht ein Hahn. Ein Esel schreit. Die Franzosen, die Arabisch sprechen, übersetzen für die Geiselnehmer, dass die Mazedonier keine Amerikaner sind, sondern auf einer US-Basis arbeiten. Der Fahrer der Mazedonier hat eine stark blutende Schussverletzung in der Wange. Später wird er zusammen mit den Mazedoniern geköpft.
Die Mobilisierung in Frankreich zugunsten der Geiseln beeindruckt die Entführer. „Ihr seid populärer als Präsident Chirac“, sagen sie. Chesnot und Malbrunot suchen das Gespräch. Das ist ihre Überlebensstrategie. „Ohne Arabischkenntnisse wäre es weniger sympathisch gewesen“, sagt Chesnot. Er benutzt das Wort „sympathisch“, wenn er von seinem Kontakt mit den Entführern spricht. „Sie brachten uns mehrfach am Tag Essen. Sogar, während sie selbst Ramadan machten“, erzählt er: „Sie fragten immer, wie es geht. Und wenn ich Schmerzen hatte, bekam ich Aspirin.“
Dass er am Anfang der Gefangenschaft geschlagen wurde, erwähnt Chesnot nicht mehr. Wenn man ihn daran erinnert, bemüht er sich, diese „einzige gewalttätige Geste“ seiner Entführer zu erklären. Sie hatten ihm die Brille abgenommen. Auf einem Foto, das sie ihm vorlegen, kann er niemanden erkennen. Auch nicht den obersten US-General im Irak. „Und du willst Journalist sein?“, herrscht ihn der Entführer an, während er ihn schlägt.
Bei Transporten von einem Versteck zum nächsten fesseln die Entführer die Hände der beiden Franzosen. Binden ihnen Tücher über die Augen. Und legen sie wie Gepäckstücke in Pappkartons. „Warum tauscht ihr eure Geiseln nicht gegen Gefangene des Gefängnisses von Abu Ghraib aus?“, fragt Christian Chesnot. „Wenn wir sie vor einer Kamera hinrichten, ist das wirksamer“, bekommt er als Antwort.
Chesnot hat seit September 1999 in Amman gelebt. Von der jordanischen Hauptstadt aus berichtet er vor allem für den internationalen französischen Radiosender RFI. „Ein Traumjob“, sagt er. Malbrunot arbeitet von Jerusalem aus für die Zeitung Figaro und den Radiosender RTL. Beide kennen die Region. Zusammen haben sie zwei Bücher über den Irak veröffentlicht. Sie sind Rechercheure im Hintergrund, keine Draufgänger, die es an die Front zieht. Während des Irakkriegs bleibt Chesnot in Amman. Erst nach Kriegsende reist er wieder in den Irak. Im Frühjahr vergangenen Jahres spürt er, wie sich das Klima verschlechtert. Wie andere Kollegen trifft er Vorsichtsmaßnahmen: verzichtet auf dunkle Sonnenbrillen, um Verwechslungen mit US-Soldaten zu vermeiden. Und informiert seine Heimatredaktion über jeden einzelnen seiner Schritte.
Am Morgen des 20. August sendet Chesnots Kollege Malbrunot einen Beitrag an RTL. Anschließend fahren die beiden Journalisten und ihr Chauffeur in Richtung Süden. Kurz vor zehn Uhr halten sie auf einer Brücke 25 Kilometer vor Nadschaf an, um zwei Jungen nach dem Weg zu fragen. Die Jungen schicken sie zu einer Abzweigung zurück. Wenige Minuten später nehmen zwei Wagen ihr Auto in den Klammergriff. Bewaffnete Männer steigen aus und bringen die drei in ihre Gewalt.
Es war „Mektub“, sagt Chesnot – Schicksal. Als Erstes lässt er an jenem Freitag im August sein Mobiltelefon in ein Fach in der Autotüre fallen. Die Entführer sollen nicht denken, dass er nach einer Waffe greift. Dann sagt er ihnen: „Wir sind französische Journalisten.“ Und: „Unser Land führt keinen Krieg gegen den Irak.“ Beim ersten Aufenthalt in einem Kofferraum ist er überzeugt, dass es sich um ein Missverständnis handelt. „Die Entführer waren selbst überrascht, als sie merkten, dass wir Franzosen sind“, sagt er, „auf die Idee mit dem Kopftuchverbot an französischen Schulen sind sie erst später gekommen.“
Chesnot ist gegen die Irakkrieg gewesen. Und den Widerstand gegen die Besatzer kann er „verstehen“. An dieser Überzeugung hat seine Gefangenschaft nichts geändert. Aber als Geisel gerät er persönlich in Konflikt mit seiner Überzeugung. Er ist gegen Massaker an Zivilisten. Und er fühlt sich als Zivilist und völlig unschuldig. Das alles sagt er seinen Geiselnehmern. Wohlwissend, dass er in ihrer Hand nicht den geringsten Einfluss auf sein eigenes Leben hat. „Als Geisel bist du Repräsentant deines Landes“, sagt er, „wir waren Vertreter Chiracs.“
Die beiden Männer halten sich mit Krafttraining fit. Spielen Szenen ihrer Befreiung durch. Zählen jeden Tag. Nur einmal verlieren sie jede Hoffnung. „Wer lebt, wer ist tot?“, witzelt Anfang November einer ihrer vermummten Entführer zur morgendlichen Begrüßung: „Eure Situation ist sehr kritisch. Chirac ist stur. In der Kopftuchfrage bewegt sich nichts.“ Sie realisieren, dass einer von ihnen ermordet werden soll. Chesnot bringt Malbrunot Gebete bei. Die beiden Männer halten sich an der Hand. Vertrauen sich gegenseitig ihr Testament an. Der Überlebende soll es den Angehörigen des Toten übermitteln. Nach sechs Tagen scheint die Gefahr gebannt. Die Entführer geben den Geiseln zu verstehen, dass sie Tauschware sind. Und nicht Todeskandidaten.
Die Übergabe an ein Kommando des französischen Auslandsgeheimdienstes DGSE, am 21. Dezember auf einem Stück Brachland in Bagdad, kommt dennoch überraschend für die beiden. Genau wie der Empfang in Paris. Sie wissen noch nicht, dass ihr Konterfei überlebensgroß an den Fassaden von Rathäusern hängt, dass im Radio und im Fernsehen täglich berühmte Schauspieler und Journalisten an sie erinnert haben. Bei ihrer Rückkehr zwei Tage vor Weihnachten werden sie wie Helden empfangen. Die Rede ist von einem „Weihnachtsgeschenk für alle Franzosen“. Auf dem Flughafen bilden Staatspräsident Chirac, der seinen Urlaub unterbrochen hat, der Regierungschef, mehrere Minister und Repräsentanten sämtlicher Parteien und Konfessionen in Frankreich das Empfangskomitee. Die Exgeiseln sinken in die Arme ihrer Angehörigen.
Zum Abschied im Irak haben die Entführer zu Chesnot und Malbrunot gesagt: „Dies ist das Land des Krieges. Wir brauchen keine ausländische Presse.“ Aber einer hat Chesnot auch gefragt: „Wirst du wiederkommen?“ – „Inschallah“, hat der geantwortet, „hoffentlich ist das eines Tages möglich. Warum fragst du?“ Der Entführer antwortete: „Ich will wissen, ob du ein echter Journalist bist. Die echten kommen immer zurück.“