: Pflegemutter verzweifelt gesucht
LEBENSWELTEN „Your Nanny Hates You“ – unter diesem Titel startete am Hebbel am Ufer ein ungewöhnliches Theaterfestival rund um das Thema Familie
VON KATHARINA GRANZIN
Fast jeder hat sie, niemand kann ihr wirklich entkommen, und auch wer keine hat, wird zu großen Teilen durch ihr Nichtvorhandensein bestimmt: Familie ist ein Thema, das permanent neu definiert wird und immer Konjunktur hat. Was aber ist „Familie“?
Das Hebbel am Ufer hat für sein zehntägiges Festival zur Annäherung an diese Frage den Titel „Your Nanny Hates You!“ gefunden und damit einen Rahmen gesteckt, der weit über den persönlichen Familienhorizont der meisten deutschen Theaterbesucher hinausgeht. Gleich am ersten Festivaltag ließ sich erfahren, dass das meist als so selbstverständlich hingenommene soziale Konstrukt der Mutter-Vater-Kinder-Kleinfamilie nur unter bestimmten ökonomischen Bedingungen überhaupt möglich zu sein scheint.
Den Eröffnungsvortrag nämlich hielt die Pulitzer-Preisträgerin Sonia Nazaro, die als Autorin der Los Angeles Times eine Aufsehen erregende Serie über ein Phänomen verfasst hat, das in Europa kaum vorstellbar ist: Jahr für Jahr reisen 48.000 Kinder und Jugendliche aus Lateinamerika allein und illegal über die mexikanische Grenze in die Vereinigten Staaten ein. Die meisten von ihnen sind auf der Suche nach ihren Müttern, die, verzweifelt in ihrer Armut, die Kinder in der Obhut von Verwandten zurückgelassen haben, um in den USA Geld als Nanny oder Putzfrau zu verdienen. Aus dem geplanten Aufenthalt von ein, zwei Jahren werden meist fünf bis zehn Jahre oder mehr, eine Zeitspanne, in der die Kinder heranwachsen und sich schließlich selbst auf die Suche nach ihren Müttern machen.
Verständnis für die Mütter
Nazaro stieß zufällig, im Gespräch mit ihrer Hausangestellten, auf dieses Thema, das sie lange nicht loslassen sollte. Viele Monate verbrachte sie in Mexiko und anderen lateinamerikanischen Ländern, um den lebensgefährlichen und manchmal mit dem Tod endenden Weg der Kinder nachzufahren. Ihr Vortrag ist, obwohl sie ihn sicher schon mehrere Dutzend Mal gehalten hat, so emotionsgeladen wie faktenreich und endet, wenngleich Nazaro jede Menge Verständnis für die Entscheidung der alleinerziehenden, verzweifelten jungen Frauen zur Arbeitsemigration mobilisiert, mit einem unmissverständlichen Plädoyer dafür, dass man diesen Müttern die ökonomischen Bedingungen ermöglichen müsse, ihre Kinder in der Heimat selbst zu versorgen – sei es durch die gezielte Subvention bestimmter Waren aus den Herkunftsländern der Arbeitsmigrantinnen oder durch Mikrokredite wie bei der Grameen Bank des Mohammed Yunus.
Dieses frauenspezifische Nebenthema der Globalisierung erfährt viel Aufmerksamkeit bei „Your Nanny Hates You!“ und wird auch am kommenden Montag Thema zweier weiterer Vorträge sein. Der einstündige Dokumentarfilm „Lotería“ von Janina Möbius, der an allen Festivalabenden als Loop laufen wird, widmet sich ebenfalls der Situation von Frauen, die zu Lasten der eigenen Familie die Kinder anderer Leute großziehen, und geht der Situation in Mexiko nach, wo es in gutsituierten Familien seit jeher als völlig normal empfunden wird, eine „Nana“ zu haben.
Quälendes Tortenessen
Insgesamt dominieren die Nanas und Mamas das Programm sehr. Auch das surrealistische Stück „Daddy“ des amerikanischen Autors Travis Jeppesen fokussiert trotz seines programmatisch klingenden Titels weniger das Papa-Sein als vielmehr das Mama-Sein in seiner hysterisch übersteigerten Ausformung. Interessant, aber: Wo bleiben bei diesem Familienfestival die Väter? Irgendwie gehören die schließlich auch dazu.
Immerhin in Sebastians Nüblings Stück „Mütter.Väter.Kinder“ sind sie aktive Teilnehmer. Nübling, selbst dreifacher Vater, lässt in seiner weitgehend sprachlosen, pantomimisch-tänzerischen Familienaufstellung zwei seiner Kinder sowie seine Frau mitspielen und hat noch zwei weitere schauspielernde Familienverbände für seine Produktion gewonnen. Der jüngste Darsteller ist vier Jahre alt und agiert mit großer Selbstverständlichkeit vor dem vollen Saal. Beharrlich lässt er Styroporflugzeuge ins Publikum segeln, während die Erwachsenen sich mit Ballspielen Wettkämpfe liefern. Dass im Familienleben jedoch nicht alles ein Federballspiel ist, dass auch das geburtstägliche Tortenessen mit Verwandtschaft zum quälenden Ritual werden kann, und wie leicht man sich aneinander und an den eigenen Erwartungen verheben kann, zeigt Nübling in wohldosierter Mischung aus grundlegenden Einsichten und szenischem Witz.
Ooh ja, man erkennt das alles wieder. Und immer wieder ist es schön, wenn die divergierenden Bewegungen ab und an in eine gemeinsame Choreografie münden. Diese familiäre Gemeinsamkeit aber, wie wir ja noch vom Beginn des Abends wissen, ist womöglich ein hochprivilegiertes Ausnahmephänomen.
■ Nächste Vorstellungen „Mütter.Väter.Kinder“: 13. und 14. 6., 20 Uhr. Festival „Your Nanny Hates You!“ bis 20. 6.