Garaus für den Kapitalismus

KAPITALISMUSKRITIK André Gorz sieht in der informellen Revolution die Möglichkeit für eine befreitere Gesellschaft

„Die Ökonomie des Wissens ist dazu berufen, eine Ökonomie der Gemeinschaftlichkeit zu sein“ (André Gorz)

VON ANNETTE JENSEN

In Zeiten der Krise sind die „Auswege aus dem Kapitalismus“ von André Gorz eine überaus lesenswerte Lektüre. Im Gegensatz zu vielen anderen traut sich der Autor nicht nur große und durchaus überzeugende Thesen zu, wenn er die aktuelle ökologisch-ökonomische Lage analysiert. Er skizziert auch Auswege. Das ist umso bemerkenswerter, als Gorz die jetzt erschiene Aufsatzsammlung vor zwei Jahren zusammengestellt hat – kurz bevor er im September 2007 starb.

Schon vor vier Jahren hat der französische Sozialphilosoph die gegenwärtigen Entwicklungen zutreffend beschrieben: „Sollten die Kurse der Wall Street dauerhaft sinken, […] wird das weltweite Bankensystem wie ein Kartenhaus in sich zusammenfallen.“ Die Ursache der Finanz- und daraus folgenden Wirtschaftskrise sieht Gorz jedoch nur vordergründig in einer mangelnden Regulierung durch staatliche Institutionen. Vielmehr bewege sich der Kapitalismus auf seine innere Grenze zu und stranguliere sich selbst – und die Umwelt gleich mit.

Immer effektivere Maschinen führen dazu, dass immer weniger Personal immer größere Warenmengen produziert. Dadurch sinken tendenziell die Herstellungspreise. Um die Profite zu steigern oder zumindest auf gleichem Niveau zu halten, sind ständig wachsende Absatzmengen notwendig. Nicht die Nachfrage und Wünsche der Kunden treiben also das System an, sondern die Marketingabteilungen. Gorz zitiert den Leiter einer US-Agentur: „Ich betrachte die Werbung als Erziehungs- und Aktivierungskraft, die in der Lage ist, die für uns notwendigen Nachfrageveränderungen einzuleiten.“

Der Kunde steht im Dienst einer Produktion, die ein Maximum an Überflüssigem hervorbringt, das schnellstmöglich kaputtgehen muss, um Platz für neue Waren zu schaffen.

Eine solche Wirtschaft der Verschwendung rast nicht nur auf einen ökologischen Kollaps zu, sondern ist auch ökonomisch nicht zukunftsfähig. Weil die Massenproduktion immer weniger rentabel wurde, haben viele Firmen in den letzten Jahren einen Großteil ihrer Gewinne auf dem Finanzmarkt investiert. „Die Realwirtschaft wird zu einem Anhängsel der von der Finanzindustrie unterhaltenen Spekulationsblasen. Bis zu dem unausweichlichen Moment, in dem die Blasen platzen, die Banken reihenweise bankrottgehen, dem Weltkreditsystem der Zusammenbruch und der Realwirtschaft eine ernste und anhaltende Depression droht“, schrieb Gorz 2007. Genau dort stehen wir heute.

Eine andere Revolution

„Das Ende des Kapitalismus hat schon begonnen“, verkündet Gorz. Nicht eine aktive Arbeiterschaft ist dabei der entscheidende Faktor – im Gegenteil. Indem es vielen Beschäftigten heutzutage in erster Linie um den Erhalt ihrer Jobs gehe, sind sie Kollaborateure des Systems. Stattdessen werde die „informationelle Revolution“ dem Kapitalismus den Garaus machen, so Gorz. Ob das alles in der Katastrophe endet oder in einer wünschenswerten Gemeinschaftsökonomie, ist für ihn noch nicht ausgemacht. Aber immerhin liefert er eine positive Vision.

Während Rohstoffe und materielle Produktion unwichtiger werden, steigt die Bedeutung von Wissen rapide an. Wissen aber ist ein grundsätzlich anderer Stoff als Eisen oder Öl. Sein Wert „bemisst sich nicht in Geld, sondern an dem Interesse, das es weckt, an der Verbreitung, die es findet.“ Einmal in der Welt, ist Wissen nicht mehr zu monopolisieren und zu privatisieren, sondern vielfach nutzbar, ohne dass es dabei knapp wird oder schrumpft. Die Digitalisierung ermöglicht seine kostenlose weltweite Verbreitung.

Zwar versuchen Konzerne, durch Patente ihr Wissen vor fremdem Zugriff zu schützen, doch im Prinzip ist „die Ökonomie des Wissens dazu berufen, eine Ökonomie der Gemeinschaftlichkeit und der Unentgeltlichkeit zu sein“. Copyleft statt Copyright.

Eine solche Wirtschaft hat die Chance, Arbeit von ihrem Marktwert und Warencharakter zu befreien. Sie kann sich vom Wachstumszwang des Kapitalismus verabschieden, der mehr Armut geschaffen hat, weil er zum Beispiel die Versorgung mit Trinkwasser nur dann im Bruttoinlandsprodukt positiv bewertet, wenn alle dafür zahlen müssen. Statt größtmögliche Rendite für wenige kann der wirkliche Bedarf aller ins Zentrum rücken. Eine solche Gemeinschaftsökonomie bedeutet auch, die Entscheidungsgewalt über die Produktion zurückzugewinnen und den Gigantismus und die Komplexität des Herstellungsprozesses zurückzuschrauben.

Ein anderer Maßstab

Gorz schlägt vor, die „Norm des Ausreichenden“ zum politischen Maßstab zu machen. In selbst verwalteten Strukturen haben die „assoziierten Produzenten“ die Freiheit, gemeinsam abzuwägen zwischen der aufzuwendenden Mühe und dem Ausmaß der Bedürfnisse. Solch effizientes Wirtschaften ist weitaus umweltfreundlicher als der Kapitalismus, der eine „maximale Ineffizienz bei der Bedarfsdeckung“ anstrebt: eine größtmögliche Anzahl von Bedürfnissen mit einer größtmöglichen Warenflut zu bedienen.

Kapitalismuskritik und politisch-ökologisches Denken gehören für Gorz untrennbar zusammen. Ein anregendes, visionäres Bändchen.

■ André Gorz: „Auswege aus dem Kapitalismus. Beiträge zur politischen Ökologie“. Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer. Rotpunktverlag, Zürich 2009, 128 Seiten, 16 €