: Partisanenkämpfe im Alltagsdschungel: Über faule Ausreden bei Bibliotheken
„Was für eine Gesellschaft, die mich zum Lügen zwingt!“ –Dem entgegnete ich: „Sagen Sie doch einfach die Wahrheit!“
Laut Michel de Certeau haben die Menschen in den modernen, elektronisierten Städten kaum noch eine Möglichkeit, deren engmaschigen Systemen zu entkommen, ihnen bleibe als „Individuen“ nur die Chance, sie immer wieder zu überlisten, auszutricksen, „Coups zu landen“. Im Endeffekt gehe es dabei um eine „Lebenskunst“, die den partisanischen Tugenden und Taktiken ähnlich ist – um im Dschungel der Interessen und Informationen individuell zu bestehen und sogar erfolgreich zu sein.
Aber die andere Seite schläft auch nicht! Regine A. zum Beispiel arbeitet seit vielen Jahren an der Ausleihe einer Berliner Universitätsbibliothek. Dabei wird sie täglich mit den Ausreden von Benutzern konfrontiert, die es nicht geschafft haben, ihre Bücher rechtzeitig wieder zurückzugeben. Weil die an der Ausleihe Beschäftigten mit steigenden Mahngebühren irgendwann diesen Auseinandersetzungen nicht mehr gewachsen waren, installierte die Bibliotheksleitung ein Ausleihprogramm mit Benutzerkonten. Damit werden seitdem die Mahnungen nach Ablauf der Ausleihfrist automatisch erstellt. Die dritte Mahnung geht per Einschreiben raus – was für den Empfänger teuer wird.
Dieses Verfahren hält die Bibliotheksbenutzer jedoch nicht davon ab, den Mitarbeitern an der Ausleihe weiterhin zuzusetzen. Regine A. berichtet: „Die rufen nach der dritten Mahnung bei mir an oder kommen persönlich zur Ausleihe und verlangen eine Verlängerung der Bücher. Nach Überprüfung ihres Benutzerkontos sage ich ihnen: ‚Aber Sie haben schon eine Mahnung.‘ Darauf der Kunde: ‚Bei mir ist nichts angekommen … Vielleicht ist sie bei der Post verloren gegangen? Kann ich meine Bücher trotzdem verlängern?‘ – ‚Ja, aber die Mahngebühren müssen Sie dennoch zahlen.‘ – ‚Ich war krank.‘ – ‚Kein Problem, bringen Sie Ihre Krankmeldung, dann erlassen wir Ihnen die Gebühren.‘ – ‚Ich war aber nicht krankgemeldet, ich hatte starke Rückenschmerzen und konnte mich kaum bewegen.‘
Andere Kunden behaupten: ‚Ich war verreist‘, ‚Ich war nicht in Berlin‘, oder ‚Ich hatte die Ausleihquittung verlegt.‘ Gelegentlich heißt es auch: ‚Ich habe zwei Wohnsitze, das muss an die falsche Adresse gegangen sein‘, oder ‚Ich war so beschäftigt, dass ich nicht dazu gekommen bin, meine Korrespondenz zu erledigen.‘ Darauf erwidere ich: ‚Sie hätten Ihre Bücher auch telefonisch, per Fax oder E-Mail verlängern können. Stattdessen sind Sie jetzt sogar umständlicherweise persönlich erschienen.‘ Aber was soll man solchen Leuten antworten, alten Universitätsangehörigen etwa, die nur rumstottern: das sei ihnen noch nie passiert, in den letzten 30 Jahren nicht. Einer hat zum Beweis dafür sogar mal eine ganze Akte mit Ausleihquittungen vorgelegt. Ein anderer brach fast in Tränen aus und klagte: ‚Was für eine Gesellschaft, die mich zum Lügen zwingt …‘ Dem entgegnete ich: ‚Sagen Sie doch einfach die Wahrheit!‘
Manche behaupten auch, sie hätten die Bücher per E-Mail verlängert und auch eine Bestätigung dafür bekommen. Diese Leute werden an die Ausleihleitung weitergeleitet. Manchmal kommt es tatsächlich zu elektronischen Irrtümern im Ausleihprogramm, deswegen wird vor der dritten Mahnung im Büchermagazin kontrolliert, ob die Bücher nicht doch dort stehen. Meistens liegt jedoch der Irrtum bei den Kunden.
Einige fragen uns dann: ‚Bin ich jetzt ein Verbrecher?‘ Andere meinen, wir würden ‚immer alles auf das System schieben‘. Manche werden aggressiv – und einige sogar gewalttätig. Viele Bibliotheken stellen deswegen Sicherheitspersonal ein. Bei uns an der Universität hat man das leider noch nicht für notwendig befunden. Wieder andere gehen bis vors Gericht, um gegen unsere Mahnungen zu klagen. Solchen Leuten geht es nicht selten ‚ums Prinzip‘. Daneben gibt es auch Benutzer, die versuchen die angemahnten Bücher einfach in die Bibliothek zurückzuschmuggeln – und dort irgendwo abzulegen. Wenn wir sie da finden, müssen wir dem Ausleiher die Mahngebühren erlassen. Einmal kamen wir so jemandem aber auf die Schliche: Er tobte und schrie: ‚Darf ich jetzt gar keine Bücher mehr ausleihen?!‘ Dann schmiss er sie alle auf den Boden und verließ schimpfend das Gebäude.
Ein anderes Mal kamen zwei Taubstumme und gaben einen Stapel Bücher zurück. Ich konnte ihre Ausleihkonten im Computer nicht finden, mich aber auch nicht richtig mit ihnen verständigen, die beiden redeten die ganze Zeit in Gebärdensprache auf mich ein, schließlich hielt ich einen elektronischen Irrtum nicht mehr für ausgeschlossen und nahm die Bücher an. Später stellte sich heraus, dass sie ganz woanders hingehörten und die beiden sie nur schnell bei uns entsorgen wollten.
Manche Kunden versuchen es mit Charme, indem sie die Ausleihe becircen – sogar mit Geschenken. Eine Doktorandin hat einem Kollegen mal derart den Kopf verdreht, dass sie die Bücher unbegrenzt lange behalten durfte, sogar vorgemerkte. Nicht minder merkwürdig sind Ausleiher, die ihre Mahngebühren, manchmal über hunderte von Euro, geradezu freudig bezahlen. Das sind nicht selten solche, die sich als alte Linke einbilden, damit die kulturelle Errungenschaft öffentliche Bibliothek, die ‚Waffe Wort‘, finanziell zu fördern. Nur leider kommt ihr Geld uns gar nicht zugute. Es macht uns nur ein schlechtes Gewissen.“ LILLI BRANDT