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Archiv-Artikel

„Die Juden waren zweitrangig“, sagt David Douvette

Die Alliierten haben zu wenig gegen den Völkermord der Nazis getan. Heute verweigert sich Europa dieser Geschichte

taz: Noch nie gab es so viele Gedenkfeiern zu Auschwitz wie heute. Warum?

David Douvette: Die letzten Zeugen und Täter werden bald verschwinden. Zugleich gibt es den Willen, die Vergangenheit in einer Momentaufnahme zu sakralisieren – um dann das Buch der Geschichte zu schließen.

Was stört Sie daran?

Wir haben erst begonnen, die Mauer des Schweigens zu durchbrechen, die ganze Geschichte des Horrors ist längst noch nicht geschrieben. Es gibt offene Fragen: Wer hat ermöglicht, dass Hitler an die Macht kam? Worin bestand die teilweise aktive Komplizenschaft der Alliierten?

Was haben die Alliierten über den Völkermord gewusst?

Im Dezember 1941 hat die polnische Exilregierung in London einen Plan über Massaker an Zivilbevölkerungen vorgelegt. Mit Detailzeichnungen, Plänen, Fotos, Zeugenaussagen. Darüber hinaus gab es andere Berichte. Alle wussten es.

Warum wurden die KZ nicht bombardiert?

Offiziell, um keine Leute umzubringen. Aber Dresden und Hiroshima wurden auch bombardiert, obwohl dabei hunderttausende getötet wurden. Man muss die Dinge beim Namen nennen: Die Tatsache, dass mehrere Millionen SS und Volksdeutsche, Letten, Ukrainer et cetera in der Vernichtungsmaschine tätig waren, bedeutete ebenso viele deutsche Soldaten weniger an der Front. Hinzu kommt der jahrhundertealte christliche Antisemitismus. Juden waren nicht wichtig.

Warum haben die Widerstandsbewegungen nicht versucht, die Deportation zu verhindern?

Ihre strategischen Ziele waren: die Besatzer und die Kollaborateure bekämpfen. Die Juden waren zweitrangig. Die französische Résistance hat deutsche Militärtransporte und die Gestapo angegriffen. Aber nie einen Zug, der Menschen nach Auschwitz deportiert hat.

Behindern politische Zeremonien, wie jene in Auschwitz, die Arbeit der Historiker?

Wenn man sich der Geschichte verweigert – oder sie beschönigt – ist das Revisionismus. Es gibt überall in Europa eine Verweigerung gegenüber der Geschichte. In Frankreich ist man stolz auf Jeanne d’Arc und Napoleon. Aber die 40er-Jahre will man ausblenden. Man will behalten, was ruhmreich ist, und beiseite legen, was stört.

Präsident Jacques Chirac hat im Jahr 1995 eine französische Verantwortung anerkannt.

Die Verantwortung der Regierung von Vichy. Tatsächlich gab es viel mehr Franzosen, die beteiligt waren und sich bereichert haben. Es gibt mehr als vier Millionen Denunziationsbriefe. Gegen Juden, Kommunisten, Résistants. Darf man das nicht sagen? Im Namen der Aussöhnung?

Die Politiker haben an die „Befreiung der Lager“ erinnert.

Das ist ein gestohlenes Wort. Es unterstellt, dass es eine militärische Strategie zur Befreiung der KZ gegeben hätte. Die gab es aber bloß, um Kriegsgefangene zu befreien. Die hatten Priorität. Aber keine Armee hat ein Konzentrationslager befreit. In Auschwitz hat die SS am 17. Januar 1945 alle, die noch gehen konnten, auf die Todesmärsche getrieben. Sieben- bis achttausend Frauen, Kinder, Kranke und Alte ließ sie zurück, weil die Zeit fehlte, sie umzubringen. Die Sowjets, die nicht einmal einen Kilometer vom KZ entfernt waren, sind erst am 27. Januar in das Lager gegangen. Zehn Tage später – inzwischen waren viele gestorben.

Wie wurden die Deportierten bei ihrer Rückkehr in Frankreich empfangen?

In Paris wurden sie in das Hotel Lutetia gebracht. Wer gehen konnte, bekam ein Métro-Billet, um nach Hause zu fahren. Die Deportierten wogen noch 28, 35 oder 40 Kilo – sie kamen aus Vernichtungslagern zurück. In keinem Land wollte man ihnen zuhören. Erst der Eichmann-Prozess machte es möglich, ihre Berichte zu hören.

Gab es in Frankreich eine kontroverse Debatte über die Zeremonien zum 60. Jahrestag?

Es gibt einen Konsens darüber, die Geschichte zu verbergen. Alle sind sich einig: die Alliierten, die Henker und die Opfer. Man sagt nur, was absolut notwendig ist, verringert die Verantwortung der Alliierten und gibt sich mit der Verurteilung der Nazi-Verbrechen zufrieden. Aber die Verbrechen haben eine solches Ausmaß erreicht – bis zu 6 Millionen Opfer bei den Juden und bis zu 56 Millionen Tote auf dem ganzen Planeten –, weil diese stillschweigende und aktive Komplizenschaft existiert hat. Schon 1935 hat ein „Weißbuch“ die Bedingungen in den Konzentrationslagern von Oranienburg, Sachsenhausen, Buchenwald und Ravensbrück beschrieben. Dennoch hat Frankreich deutsche Flüchtlinge in Internierungslager gesteckt. Mehr als 10.000 Gegner des Regimes und Juden. Sie waren unter den ersten, die deportiert wurden.

Haben Sie keine Sorge, die deutsche Verantwortung für die NS-Verbrechen zu relativieren?

Wenn ein Gericht den Haupttäter eines Verbrechens verurteilt, sucht es auch nach den Komplizen. Die westlichen Alliierten haben die Kriminellen nicht nur machen lassen, sondern mitgemacht. Und mitprofitiert. „IBM“ hat ab 1937 die Maschinen zur Erfassung der Juden, die vernichtet werden sollten, hergestellt. In Frankreich hat „Ugine“ im Mai 1944 immerhin 40 Tonnen Zyklon-B nach Deutschland geschickt. Wer das feststellt, mindert nicht die Verantwortung jener, die die Kristalle in die Gaskammern geworfen haben.

INTERVIEW: DOROTHEA HAHN