piwik no script img

Archiv-Artikel

Zwischen Ruhr und Bosporus

Der Intendant des Mülheimer Theaters an der Ruhr, Roberto Ciulli, inszeniert Georg Büchners „Dantons Tod“ mit deutschen Schauspielern – in der Türkei. Die Premiere ist dort für Ende April angesetzt. Für Ciulli besitzt das Theater eine Universalsprache

VON BORIS R. ROSENKRANZ

Am Anfang war da diese Windel. Gertraud Stoop-Wirth, die frühere Chefin des Goethe-Instituts in Ankara, übergab sie 1987 Roberto Ciulli, dem Intendanten des Mülheimer Theaters an der Ruhr. Ciulli war mit seinem Ensemble in die Türkei gereist, um dort das erste Gastspiel eines deutschen Theaters nach dem Krieg zu geben. Die Windel, in der eine Vase aus Porzellan eingehüllt lag, hatte für Stoop-Wirth freilich symbolischen Wert: Sie sollte die Schutzbedürftigkeit der noch jungen, noch zerbrechlichen Idee von deutsch-türkischer Theaterarbeit verdeutlichen, mit der Ciulli damals gerade begann.

Mittlerweile ist die Kooperation zwischen dem Mülheimer Theater und den türkischen Bühnen dem Windelalter entwachsen. Das heißt: Nicht nur am Bosporus ist das Haus bekannt. 32 Länder hat das Theater bisweilen mit Schauspiel übersät - Ägypten und Iran genau so wie Mexiko und Russland. Aber die Zusammenarbeit mit der Türkei hat eben einen besonderen Stellenwert. Unlängst haben Ciullis Haus und die Städtischen Bühnen Istanbul einen dreijährigen Kooperationsvertrag geschlossen, der im Grunde ebenso symbolische Bedeutung hat wie die Windelvase: Der Kontrakt ist nicht nur ein schnödes Regelwerk, das Verfahrensweisen manifestiert, er steht auch als Bild für eine inzwischen gefestigte Zusammenarbeit. Die erste Koproduktion mit dem türkischen Staatstheater entwickelte sich bereits 1993 - auch hier, mit der ersten Koproduktion eines deutschen und eines türkischen Theaters überhaupt, waren die Mülheimer Vorreiter.

Der Erfolg des Projekts liegt offenbar in der Kunst selbst. Ciulli, der das Theater an der Ruhr 1980 mitbegründete, ist nicht nur Regisseur, sondern auch Diplomat. Er hält fest an der Idee einer Universalsprache des Theaters, an Bildern, die abseits der Sprache ihre kathartische Wirkung entfalten. Dabei überwand Ciulli die Sprachhürde meistens, indem er sich nicht mit Standard-Werken anbiederte. Auf die Bühne hievte er immer auch sperrige, provokante Stücke mit scharfkantigen Szenen: 1989 zum Beispiel, als er in Ankara Sartres „Tote ohne Begräbnis“ zeigte, ein Stück über Folter, gespielt auf einem alten, von Stacheldraht umzingelten Militärareal. Ein Wagnis, das den Chefsessel des damaligen Generalintendanten in Ankara, Bozkurt Kurue, ins Wanken brachte und hitzige Diskussionen entfachte.

Andererseits waren alle drei Vorstellungen restlos ausverkauft. Denn gerade Ciullis Bilder scheinen es zu sein, die Zuschauer auf der ganzen Welt gleichermaßen fesseln - auch wenn die dazugehörige Sprache für die meisten ein Rätsel bleibt. Hinzu kommt natürlich der multikulturelle Aspekt bei manchen Stücken, die bisher über die Bretter fegten: italienischer Regisseur, spanisches Stück, türkische Schauspieler, deutsche Bühne. Auf diese Weise wird es weitergehen. Als nächstes will Ciulli in Istanbul Georg Büchners „Dantons Tod“ mit türkischen Schauspielern aufführen. Die Premiere ist für Ende April angesetzt. Im November ist das Theater an der Ruhr dann für eine ganze Woche zu Gast in Istanbul: mit sieben Inszenierungen aus dem hauseigenen Repertoire, mit Workshops und Seminaren. Und auch die Türken werden fortwährend im Revier gastieren, was vor dem Hintergrund der Debatte um deren EU-Beitritt wiederum bildhaft ist: Künstlerisch ist die Türkei Europa mit dem Mülheimer Vertrag zumindest schon mal einen Schritt näher gekommen.