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Archiv-Artikel

HÄTTEN SIE EINEN LINKEN PANTOFFEL FÜR MICH?

VON JOACHIM SCHULZ

Normale Nachbarn sind anders. Sie leihen sich ein Ei, eine Tasse Salz oder Zucker. Nie bringen sie das Ei zurück, den Zucker, das Salz – geschweige denn die Tassen. Schon bald herrscht ein entsetzlicher Tassennotstand im Schrank. Doch kann man Kaffee und Tee nicht ebenso gut aus Gläsern trinken? Na klar. Wozu also die Aufregung?

Doch es geht hier ja nicht um normale Nachbarn. Es geht um Kemper. Noch nie hat er sich ein Ei oder Salz geliehen – und Tassen scheint er auch genug zu besitzen. „Entschuldigen Sie die Störung“, sagt er. Er steht im Treppenhaus, hält eine Vase in der Hand: „Hätten Sie wohl ein paar Blumen für mich? Rosen, Tulpen, ganz egal …“ – „Blumen?“, rufe ich erstaunt. „Ja“, sagt er und senkt den Blick: „Ich habe vergessen, welche zu kaufen. Meine Mutter hat Geburtstag. Sie kommt zum Kaffeetrinken, dürfte jede Minute da sein. Ich kann ihr doch zum Geburtstag keinen Kaffeetisch ohne Blumen zumuten! Wo doch schon der Käsekuchen ziemlich dunkel geraten ist.“

So ist er, mein Nachbar Kemper. Er borgt sich Wandkalender und einzelne Pantoffeln und fragte mich sogar schon einmal, ob er über Weihnachten nicht meinen Schuhschrank ausleihen könnte. Neulich bat er mich um ein bisschen Shampoo. Das war für Kempers Verhältnisse eine erstaunlich gewöhnliche Bitte – versteht sich aber, dass er den Shampoomangel erst unter der Dusche bemerkt hatte und daher pudelnass und nur mit einem um die Hüften geschlungenen Handtuch bekleidet vor meiner Tür stand. Trotzdem bin ich noch immer nicht auf jede Überraschung gefasst: „Feuerlöscher?“, keuche ich: „Ob ich einen Feuerlöscher habe?!“ Kemper nickt. Er trägt einen Helm, eine Gasmaske hängt ihm um den Hals, und ich befürchte das Schlimmste: „Was soll das bedeuten? Brennt es bei Ihnen?!“ Kemper winkt ab. „Nein, nein“, sagt er, „Sie können beruhigt sein.“ Dann fällt ihm ein, dass neben der Haustür ein Feuerlöscher steht und er patscht sich mit der Hand vor die Stirn: „Hätte ich Sie gar nicht belästigen müssen!“

Ich bin nicht beruhigt. Ich schließe die Tür, spitze die Ohren, schnuppere argwöhnisch. Hört man da nicht ein gedämpftes Knistern? Und riecht es nicht irgendwie brenzlig? Jählings ertönt ein Schlag in Kempers Wohnung: O Gott, die ersten Balken krachen zusammen! Ich renne die Treppe hinauf: „Kemper!“, schreie ich: „Was ist los?“ Von drinnen höre ich seine tiefe Stimme: „Unser furchtloser Held sieht sich von Flammen eingeschlossen …“ „Halten Sie aus! Ich komme!“, brülle ich, werfe mich gegen die morsche Wohnungstür, die tatsächlich nachgibt, stolpere ins Wohnzimmer, pralle mit Kemper zusammen, kann gerade noch registrieren, dass es weder meterhohe Flammen noch zusammenkrachende Balken gibt, löse aber im Fallen den Feuerlöscher aus und kann mich dann hinterher, während wir das Zimmer mühsam von dem klebrigen Schaum befreien, darüber aufklären lassen, dass er bloß einen humoristischen Videoclip zum hundertjährigen Jubiläum des Feuerwehrsportvereins drehen wollte, dem er seit seiner Jugend angehört.