: Eine fast zarte Radikalität
JAZZ IN NEW YORK Wer nie einen Sponsor hatte, kann auch keinen verlieren. Davon profitierte das New Yorker Vision Festival 2009, das mit großen Jazzformationen, Wortkünstlern und Tänzern ein tolles Programm bot: Große Gefühle in Zeiten großer Veränderung
VON CHRISTIAN BRÖCKING
Die Faschisten sitzen in ihren Limousinen und warten nur darauf, dass der Schrecken bald vorbei ist, sagt der afroamerikanische Dichter und Aktivist Amiri Baraka: Wer sich jetzt nicht organisiert, wird später zur Kasse gezerrt. Baraka zählt zu denen, die noch in Ideologien reden, und zu jenen, die nicht interessiert, von welcher Marke dein MP3-Player ist, sondern welche Inhalte du darauf speicherst. Doch es gibt auch andere Stimmen bei den Podiumsdiskussionen während des New Yorker Vision Festivals, jüngere Wissenschaftler und Journalisten etwa, die auf den Obama-Faktor hoffen und dass auch für die experimentellen Künste bald bessere Zeiten anbrechen mögen.
Das 14. Vision Festival, das Montagabend an der Lower East Side Manhattans zu Ende ging, ist nicht nur in seiner künstlerischen Ausrichtung einzigartig. Es ist besonders der afroamerikanischen Improvisationskunst gewidmet, man sieht hier neben aktuellen Werken bildender Künstler und Filmschaffender in den letzten Jahren zunehmend auch junge Tänzer; doch im Zentrum stehen die Musiker, die das Festival maßgeblich am Leben erhalten. Und es geht um eine politische Haltung, die sich zwar grundsätzlich an den Mächtigen reiben mag, der jedoch mit der Wahl von Obama einstweilen die Feindbilder ausgegangen sind.
Aufatmen nach Bush
Kurzum, das diesjährige Vision Festival stand unter den besten Vorzeichen, man spürte das Aufatmen nach der Bush-Misere, und man zeigte sich noch relativ unbeeindruckt von der wirtschaftlichen Krise.
Schließlich ist das Vision Festival, das unter Leitung der Tänzerin und Aktivistin Patricia Nicholson Parker und des Bassisten William Parker von den vielen ehrenamtlich helfenden Künstlern selbst organisiert wird, nicht von kommerziellen Sponsoren abhängig. Das große JVC-Jazzfestival hingegen, das sonst auch im Juni stattfand, wurde zum Opfer der Krise. Nach 25 Jahren stellte der Hauptsponsor JVC die finanzielle Unterstützung ein, womit dem Vision Festival als dem einzigen großen New Yorker Sommer-Jazzfestival nun entsprechend größere Aufmerksamkeit zukam und zukünftig womöglich auch institutionell eine andere Gewichtung zukommen könnte.
Kritisiert wird schon lange, dass die nennenswerten Subventionen und Sponsorengelder für Jazz in New York fast ausschließlich dem JVC-Festival und den Aktivitäten von Jazz at Lincoln Center zugute kommen, während unabhängige Initiativen, wenn denn überhaupt, mit Kleingeld abgespeist werden.
Doch die Krise hat auch im Jazz schon weitere Kreise gezogen: Als offenbar unmittelbare Folge des JVC-Ausstiegs stellte gerade das renommierte Fachmagazin Jazz Times sein Erscheinen ein. Es hatte alljährlich die Programmzeitschrift zum JVC-Jazzfestival, die auch der Jazz Times beilag, produziert und konnte die klaffende Finanzierungslücke diesen Sommer nicht mehr schließen. Doch New York wäre nicht die führende Jazzmetropole, würden nicht ständig Alternativen gesucht und gefunden. So bildet mittlerweile die monatlich erscheinende Zeitung All About Jazz New York die Aktivitäten der New Yorker Jazz-Szenen ab, und Graswurzel-Organisationen wie Arts for Art und RUCMA (Rise Up Creative Music and Arts), die auch hinter dem Vision Festival stehen, bemühen sich um öffentliche Förderung der experimentellen Szenen.
Tumultartige Sequenzen
Das einwöchige Vision Festival wurde von dem Geiger Billy Bang mit einer Bläserband eröffnet, der mit der Bang-Komposition „Moments For The Kiamia“ ein fulminanter Einstieg gelang: Das Erbe des Free Jazz wird in zerbrechlich wirkende Melodiebögen und großstädtische Grooves integriert, die angestrengte Rauheit der freien Improvisation ist einer fast zarten Radikalität gewichen, die Struktur und Spontaneität nicht mehr als Gegensatz denkt. Noch deutlicher, übertragen auf die Kombination von Wort und Musik, wird das bei der Premiere der 187. Conduction des Dirigenten Butch Morris. Unter dem Titel „Erotic Eulogy“ leitete er ein großes Ensemble aus jungen Wortkünstlern und Streichern durch tumultartige Sequenzen freier Gruppenimprovisation, Text-Soli über die Themen Liebe, Sex und Lüge und groove-basierte Ensemble-Strukturen.
Man hat das Gefühl, dass solche Werke die letzten Grenzblockaden zwischen Neuer E-Musik und freier Improvisation wegsprengen – und auch wenn ein verbleibender Moment der Strenge den Kunstanspruch anmahnt, die verschiedenen Ansätze stehen sich hier nicht mehr wie Fremde gegenüber.
Zu den Sensationen des Vision Festivals zählen eindeutig die Großformationen mit so nur in New York verfügbaren Musikern, wie auch das 38-köpfige Streicherensemble „Spontaneous River“ unter Leitung von Jason Kao Hwang, mit dem gestern der letzte Festivaltag eröffnet wurde. Der Geiger Jason Kao Hwang, ein Pionier der asiatisch-amerikanischen Jazz-Community in New York, glänzte zuvor schon in einem elektronisch ausgerichteten Duo-Setting mit dem Tuba-Spieler Joseph Daley zu der Tanz-Performance der jungen Tänzerin Miriam Parker, „Corridor Music“. Eine Hochleistung an szenischer Konzentriertheit und improvisatorischer Freiheit – eine Zirkularatmung in Bewegungen und Klängen. Auch die einstündige Solo-Performance des Pianisten Matthew Shipp geriet zu einem Höhepunkt des Festivals, Shipps Sinn für harmonische Brechungen, Schichtungen abstrakter Klangberge und fein gehämmerte Melodien, die in Cluster umschlagen, ist ohnegleichen. Und die Überraschung, wenn aus einem großen Sturm heraus eine sachte Phrase beginnt: Große Gefühle in einer Zeit größter Veränderung.