Arbeit hält die Sinne steif

Heute wird die „Frau von Paris“ keine Löcher in Scharniere stanzen, heute ist sie wieder einmal Schauspielerin. Auf Theatertournee mit geistig behinderten Menschen

VON MARIANNE MÖSLE

In Mariaberg: Der Arzt hat sie krank geschrieben. Das Rheuma, Marlies tun die Finger weh. Aber, habe sie gesagt, bitte nur vormittags, Herr Doktor. Weil? Ja, weil sie ja spielen will, abends, gesund sein, muss sie ja! Theaterspielen mit Franz, dem echten Schauspieler. „Heute ist Feiertag“, sagt die geistig behinderte Frau. Hellblaue Augen funkeln zwischen kleinen Fältchen. Heute stanzt sie keine Löcher in Metallscharniere in der Mariaberger Werkstatt, heute ist Theatertag. Bei der Koproduktion „Meine Welt ist das Leben“ des Regionaltheaters Lindenhof mit der Behinderteneinrichtung auf der Schwäbischen Alb spielt sie die „Frau von Paris“.

Marlies rüstet sich zur Abstecherfahrt nach Stuttgart. 46 Jahre alt, zappelig wie ein Teenager, kurze, rote Haare. Sie wolle mit Sie angesprochen werden, sagt sie beim Einsteigen in den Bus. Dann zieht sie ihre Beine hoch auf den Sitz, kuschelt sich in ihr sonnengelbes Fleece, lächelt, streckt den Arm lang aus. „Da ich dich küsste, in Paris …“, rezitiert sie und stellt sich vor: „Marlies Schradin“, und nach einer kurzen Pause, „Schauspielerin“. Seit dreißig Jahren sei sie im Heim, vorübergehend Schauspielerin. „Die Liebe ist groß“, wieder streckt sie ihren weichen, weißen Arm aus und kichert. Manchmal vermischen sich Sein und Schein, Mariaberg und die Bühne. Aber nein, in Paris sei sie noch nie gewesen.

Unterwegs: Heraus aus dem abgeschieden Dorf der Behinderten, zwischen Reutlingen und Sigmaringen durchs Laucherttal an kleegrünen Wiesen und alten Mühlen vorbei Richtung Lindenhoftheater Melchingen. Hier entstand die Idee zur gemeinsamen Produktion, ein Experiment mit offenem Ausgang. Ohne vorgegebene Struktur und Handlung wurde „Meine Welt ist das Leben“ als gemeinsames Projekt von geistig behinderten und professionellen Schauspielern entwickelt. Der pädagogische Betreuer Winfried Maulbetsch sorgte für die richtige Laune, Dramaturg Franz-Xaver Ott konstruierte aus Gesprächsfetzen der Mariaberger Schauspieler und aus Textfragmenten von Hölderlin bis Heiner Müller eine Collage. Stefan Hallmayer inszenierte. Hallmayer und Ott gehören zur ursprünglichen Truppe des Regionaltheaters, das sich vor über zwanzig Jahren aus einem Schultheaterprojekt einer Reutlinger Berufsschule entwickelte. Nach dem Vorbild von Ariane Mnouchkines „Théâtre du Soleil“ wollten Schüler und Lehrer ihr eigenes „kritisches Volkstheater“ machen. Wo die Schwäbische Alb am rauesten ist, bauten sie die Dorfwirtschaft „Linde“ um und eröffneten 1981 das Lindenhoftheater. Außergewöhnliche Freilichtproduktionen brachten der Truppe Preise und überregionale Berühmtheit.

Arbeit hält die Sinne steif“, trötet ein Jungspund mit Schnauzer durch den Bus. Zitate aus ihrem Stück „Meine Welt ist das Leben“. „Theater forever, das wär’s“, meint Oli. Sein Job an der Metallstanzmaschine in der Mariaberger Werkstatt sei ihm zu laut, zu schmutzig. Auch wenn an seinem Arbeitsplatz Zimmerpflanzen wuchern wie nirgendwo sonst. Auf der Bühne spielt er den tanzenden Schalk, der mit Po und Hüften wackelt, bis die Zuschauer „Zugabe!“ rufen. Darauf ist er stolz. Doch was für ein Gefühl bleibt, wenn man den großen Zampano spielt, aber als Behinderter nicht ernst genommen wird? Trotz und Tränen, weil man eben kein Schauspieler ist, sondern ein Mensch ohne Recht auf eigenes Kommen und Gehen. Oder Stolz und Selbstwert, weil die Bühnenbretter die Welt bedeuten und das Publikum klatscht?

Außerdem hat er ja Rosi. Sie arbeitet mit ihm, spielt mit ihm und wohnt in derselben Wohngruppe. Das Mädchen mit den wippenden Zöpfen und dem Madonnengesicht. Ein wenig geziert bahnt es sich einen Weg zum Fensterplatz. Zur Feier des Tages hat sie ein Blumenkleid mit Rüschen angezogen und ihr Schminktäschchen ans Handgelenk gehängt. Mit Lippenstift, Kajal und Rouge für die Maske drin, sagt sie und packt ihr Strickzeug aus, will einen Pullover für ihre Puppe stricken. „Moinsch, mei Mutter wird wieder guat?“, fragt sie unvermittelt. „I will sie net au no verlieren.“ Vor kurzem sei der Vater gestorben. Sie nickt, schluckt, strickt eins rechts, eins links, fängt an zu weinen. Und singt dann wieder, weil Heinz auf der Rückbank seine Ziehharmonika zur Brust nimmt: Der Mai ist gekommen – Wenn die bunten Fahnen wehen – Muss i denn zum Städtele hinaus.

Markus, der blasse 17-Jährige, summt mit, während er immer wieder seinen Sitzplatz wechselt. Schnappt hier und dort ein paar Gesprächsfetzen auf, sagt selbst wenig. Außer jo und do und du. Wie Spitzwegs einsamer Poet wedelt er den Leuten mit einem grünen Heftchen unter der Nase herum. Seit er Theater spielt, trägt er es bei sich. Für die Autogramme, die er sich von den Zuschauern geben lässt. So viele Menschen kennen ihn jetzt, sagt er, wie man einen Politiker kennt. So viele, die in sein Heftchen „lieber Markus“ schreiben.

Hinter der Bühne: Im Stuttgarter Theaterhaus treffen die Mariaberger ihre Kollegen vom Lindenhof. Marlies umarmt, will Süßigkeiten verteilen. Weil heute Freitag ist, Taschengeldtag. Nach dem Mittagessen hat sie eingekauft, „für meine Freunde“. Nein danke, sagen die, später, vielleicht. Jetzt pressiert’s. Enttäuschte Marlies. Einer greift sich den Regisseur und lässt ihn nicht mehr los: „Stefan, do hätt i no oi Frog …“ Ungleiche Freunde. Es wird gefrotzelt, auf Schultern geklopft, ein alter Witz erzählt. Kalte Betonwände, ein Spiegel in der Garderobe, Ort der Verwandlung. Wo das Sakko des Zauberers sei, ruft einer, der Hut vom Clochard und der Fächer der Dame von Welt. Während die Schauspielerkollegin Rosi zwei Zöpfe an den Kopf flechtet, fragt die, ob die Tage unregelmäßig kommen, wenn man die Pille nimmt. Marlies quengelt, schlüpft in ihr luftblaues Kleid. Nobbi, „der Aufheiterer“, wie die Truppe ihn nennt, hat sich aus Tempotaschentüchern einen Schnurrbart gedreht und wieselt von einem zum Nächsten. Stolpern, Schubsen, Nörgeln. Rosi im Dirndl, Roland im Priestertalar, Nobbi im Samtjackett – während die Zuschauer vor der Bühne Platz nehmen, sammeln sich die Schauspieler.

Maik, der Hübsche, kaut an einem Wurstbrot, als ginge ihn der ganze Laden nichts an. Ein paar Stunden vorher war er im Büro des Betreuers, wollte Arbeit und Theater, den ganzen Bettel hinschmeißen. Da gehe er nicht mehr hin, nie mehr in die Werkstatt, null Bock auf kein Theater mehr. Überhaupt ein Club für Bekloppte, er will aufs Arbeitsamt, einen Job suchen, wegziehen, unabhängig sein. Weglaufen kann jeder, hat ihm der Betreuer gesagt und seine Frühstücksbrezel geteilt mit Maik. Lampenfieber? Fünf Minuten vor Vorstellungsbeginn löst er ein Kreuzworträtsel. Heinz drückt seine Zigarre aus und schultert die Ziehharmonika. Ob wohl „ein paar Obrigkeiten“ gekommen sind, fragt einer, ein anderer gibt das Kommando: „Jetzt pack mr’s halt nochmal a.“ Das Licht geht an, die Schauspieler treten vor – vier Frauen, neun Männer, Schauspieler, zeitweilig –, und Roland, der Pfarrer, verkündet die Schöpfung der Welt. Wenn er spricht, kaut er näselnd auf den Silben, als wären es Kartoffeln.

Auf der Bühne: Die Lindenhöfler haben für den inneren und logischen Zusammenhalt des Stücks zu sorgen. Thema sind die Persönlichkeiten von Mariaberg. Aufstehen, Zähneputzen. In kurzen Spots erzählen sie vom Tageslauf. „Wenn es regnet, brauch ich nicht zu gießen“, sagt Heinz und tritt vor mit kurzen Hosen und nach hinten gestriegelten Luis-Trenker-Haaren. „Zum Mittagessen gibt’s Würstle mit Kartoffelsalat und Sprudel und dann ist Pause, Pause, Pause und dann schaff ich wieder und abends schau ich den ‚Tatort‘ an.“ Ums Theaterspielen habe er sich nicht gerissen, „aber i woiß wie’s goht, deswega mach i des halt au no“.

In Mariaberg dreht er Schrauben in Halterungen für Heizkörper. Immer drei Drehungen weit, das kann er, weil er früher Werkzeugmacher war. Bis der tödliche Unfall eines Arbeitskollegen ihm die Sinne verwirrte. Die geistig behinderten Menschen spielen sich selbst, poetisch überhöht und in Form gebracht. Erzählen vom Alltag im Heim auf der Schwäbischen Alb, wo sie in betreuten Wohngruppen leben, Sport machen und in lärmigen Fabrikhallen arbeiten. Wo Geranien auf Fensterbänken blühen und gemauerte Grillöfen auf Terrassen stehen. Fast wie überall. Aber sie spielen auch Wunschtheater, das Bilder von Freiheit, Fernweh, Zirkus und Träumen evoziert, in dem es ums Küssen und um die Liebe geht. Marlies, die Frau von Paris, spricht Texte von Jacques Prévert, „Die Liebe ist groß“. Sie hat versucht, das Gedicht auswendig zu lernen, aber den Faden auf halbem Weg bis zur Bühnenmitte verloren. Also sagt sie, was ihr noch einfällt. „Da ich dich küsste? Da du mich küsstest? Da er mich küsste? In Paris?“ Selbstgespräch einer Traumtänzerin.

„Ich bin, wie ich bin“, skandiert Rosi und stellt sich mit rotgemalten Bäckchen zur Schau. Eine Geierwally, die die Geschichte vom neu geborenen Kälbchen aufsagt. Weil sie Tiere liebt, davon handelt ihre Welt. Freund Oli träumt den Traum vom Fliegen: „Du sollst durch die Lüfte schweben, wäre das denn Glück?“ Und wenn Rosi mit naivem Augenaufschlag „Wir lieben und wir leben – wir leben und wir lieben“ wie einen lustigen Kinderreim trällert, treibt einem die Rührung Schauer über den Rücken.

Das Publikum lacht über die charmante Naivität und die kleinen Verrücktheiten von Marlies, Roland, Renate, Heinz, Markus, Maik, Nobbi, Oliver und Rosi. Ungeniert, wie man es sich sonst nie traut. Eine Szene reiht sich an die nächste. Scheinbar zusammenhanglos, doch gehalten von der puren Präsenz der Schauspieler. Allein, im Duett oder alle beim Rap. Die Schauspieler von Mariaberg nutzen ihr Handicap als Chance und spielen, als ob sie das theatralische Moment in sich trügen. Das Theater als Ort, an dem die behinderten Darsteller aus sich herausgehen, ein paar Schritte hinein in die Welt der Nichtbehinderten. „Einmal König sein und alle lachen sich tot“, wünscht sich Peter. Eitel oder selbstbewusst – jemand sein in den Augen anderer, wahrgenommen werden. Deshalb setzt er sich eine goldene Zackenkrone auf den Kopf. Stolz wie ein Pfau, Bauch rein, Brust raus – der König in weißem Rüschenhemd und Kniebundhosen.

Später holt sich eine scheue Frau auf Zehenspitzen einen Kuss. Couragiert, aber lautlos huscht sie über die Bühne. Renate, die Korbflechterin. Sie weiß, wie sie ihre Hände im Wasser anfeuchten muss, damit die Weidenäste schlüpfrig durch die Finger gleiten und nicht brechen, wenn sie sie biegt. Seit Jahrzehnten flechtet sie Körbe, Einkaufstaschen, Puppenwagen. Auf der Bühne trägt sie ein Goldbordürenkleid und faltet hoheitsvoll ihre Hände im Schoß. Wie im Märchen, wenn aus der Gänseliesel eine Prinzessin wird. Nobbi, der kleine Kollege, hüpft wie ein Straußenvogel vor und zurück. Eine flüchtige Erscheinung mit Jungengesicht und dünner, blecherner Stimme. Mal spricht er Text, mal verdrückt er sich scheu im Hintergrund. „Wenn er d’Hosa voll hot, muss er se wechsle“, sagt er, arglos. Archaische Freiheit in einem Leben, das der Vormund bestimmt. Es gibt keine Rolle, auf die sich der 37-Jährige festlegen lässt, weil er sich auf der Bühne wie im Alltag ständig neu erfindet. Er sagt, was ihm durch den Kopf weht. Satzfetzen wie Papierflieger, einer nach dem anderen, nachlässig gefaltet und fliegen gelassen: „Bloß wenn er singt“, „Manchmal tut’s weh“ oder „Dass da kein Fehler reinkommt“. Denn Fehler ärgern ihn. Am meisten, wenn er am Webstuhl in der Mariaberger Teppichweberei sitzt und das falsche Schiffchen mit Wolle durch die aufgespannten Fäden schiebt.

Mit weinrotem Samtjackett über viel zu schmalen Schultern und imaginärem Fotoapparat in der Hand quirlt er über die Bühne. Zupft an Ärmeln, knipst ein Gruppenfoto. Weil die Zuschauer lachen, dreht er sich ungelenk in der Hüfte, verbeugt sich. Am Ende tanzen ungleiche Paare in Zeitlupe und Nobbi hüpft, flüchtig wie eine Katze, auf den Schoß eines Mitspielers. „Ich sehe Irre jubeln an der Seite von Normalen“, zitiert der den Autismus-Kranken Birger Sellin, „wenn der Tag da ist … wo alle das Wir-Sein begreifen.“

Danach: Markus, der Autogrammjäger, bleibt noch ein wenig nach der Vorstellung im Foyer des Stuttgarter Theaterhauses. Weil er an so einem hohen Bartischchen steht. Mit Pressesprecherinnen und Geschäftsführern. Wohin mit den langen Armen, den gebeugten Schultern? Dauernd schiebt er die Brille, die ihm auf die Nasenspitze rutscht, nach oben. Er hat den Hans-Guck-in-die-Luft gespielt, dafür will er jetzt ein Autogramm haben. „Do neischreiba.“ Auch wenn do kein Platz mehr in seinem grünen Heftchen ist. Seine gesammelten Unterschriften kann er weder zählen noch lesen, aber das ist nicht wichtig. Sie zeigen ihm, dass er ist, wer er ist. Zuschauer bieten Marlies das Du an, das sie nicht haben will, und lassen sich mit Nobbi, dem kleinen Mann, fotografieren. Aber der kann nicht stillstehen zwischen Bügelfalten und hochhackigen Slippers, legt seinen Kopf schräg, schlägt sich ans Ohr und spuckt Sätze aus: „Mein Herz schlägt rückwärts – Schwimmen macht ihm halt Spaß.“ Dann murmelt er etwas vom Bart, der ab ist, und lässt seine Fans unter sich. „Ich bin der König“, verkündet Peter mit strähnig nach hinten gegelten Haaren. Erkennt ihn denn jetzt keiner mehr?

Die gemischte Schauspieltruppe von der Schwäbischen Alb gastiert am heutigen Samstag im Theater RambaZamba in der Kulturbrauerei, Berlin Prenzlauer Berg. Die letzte Chance, „Meine Welt ist das Leben“ auf der Bühne zu sehen! Karten zu 11 Euro unter (0 30) 4 41 39 06 MARIANNE MÖSLE, 44, ist freie Autorin und lebt in Tübingen