: Deutsche Brandopfer
Die öffentliche Erinnerung verändert sich: Statt um Strukturen geht es immer stärker um Schicksale. Droht ein neuer Opfermythos im Land der Täter?
VON CHRISTIAN SEMLER
Treten die deutschen Opfer des Zweiten Weltkriegs jetzt – 60 Jahre nach Kriegsende – ins Zentrum der öffentlicher Wahrnehmung, und werden wir Zeuge einer Art psychischem Gezeitenwechsel unter den Deutschen, einer Wende von der Täter- zur Opferrolle? Folgt man der Auffassung bedeutender Zeitgeschichtler wie der von Hans-Ulrich Wehler, so fügen sich eine Reihe von Indizien in der deutschen Publizistik der letzten Jahre zu einer Kette, die genau diesen Schluss nahe legt. Wehler reiht die Veröffentlichung von Grass’ „Im Krebsgang“, einer Novelle, die den Untergang der „Wilhelm Gustloff“ mit tausenden von Flüchtlingen aus dem deutschen Osten an Bord schildert, an die Spiegel-Serie zur Vertreibung der Deutschen jenseits von Oder und Neiße und schließt seine Zusammenschau mit Jörg Friedrichs Buch „Der Brand“, das vom Flächenbombardement der Alliierten gegen die deutschen Städte handelt. Sind Wehlers Beobachtungen stichhaltig, und kann man, ihm folgend, davon sprechen, dass ein neuer deutscher Opfermythos heraufzieht?
Das wäre eine fatale Diagnose, denn in weiten Teilen der neueren und neusten deutschen Geschichte hat der Opfermythos verheerende Wirkungen gezeitigt. Was ist darunter zu verstehen? Politische Mythen in ihrer modernen Wirksamkeit sind Erzählungen, die die Fakten, die sie verwenden, ihrer geschichtlichen Herkunft und Bedeutung entkleiden. Sie verwandeln sie zu quasi natürlichen Begebenheiten, zu vorgegebenen, schicksalhaften Grundbedingungen, die geschichtlichem Handeln vorausgesetzt sind. Das Opfer hingegen tritt in zweifacher Gestalt auf. Als Opfer, das man bringt, und als Opfer, als das man sich fühlt. Sich fürs Vaterland zu opfern, diese Vorstellung hat alte, auch republikanische Wurzeln, wie sie noch in Hölderlins „Lebe droben, o Vaterland, Und zähle nicht die Todten, Dir ist, Liebes, nicht Einer zu viel gefallen“ aufscheinen. Von völkisch-konservativer Seite wurden solche Aufwallungen rasch umgedeutet ins bedingungslose Opfer für die künftige Größe des imperialen Deutschland. Man opferte sich, weil man sich als Opfer sah. Erst als Opfer der Erbfeindschaft zu Frankreich, dann der Einkreisungspolitik der Entente vor 1914, dann als Opfer von Erniedrigung und Knechtschaft im Gefolge des Versailler Vertrags, schließlich als Opfer der jüdisch-bolschewistischen Weltverschwörung.
Diese diversen Opfer-Identifikationen wurden von ihrem historischen Kontext gereinigt, die Verantwortlichkeit des eigenen Landes für das Leid wurde ausgeblendet, die Opfer anderer Völker ignorierte man, die eigene Opferrolle setzte man absolut. Der Opfermythos ging Hand in Hand mit einer Feier militärischer Gewalt und des nationalen Machtstaats. Mit seiner Hilfe wollte man das Fatum wenden. Im Ganzen eine Disposition, die der ungarische Theoretiker István Bibó als „deutsche Hysterie“ analysierte und die er der Unfähigkeit zuschrieb, aus den inneren Widersprüchen herauszufinden, die Deutschlands Weg in eine „ausbalancierte“ Moderne blockierten.
Nach der Kapitulation im 2. Weltkrieg herrschte in Deutschland vielerorts Apathie angesichts der Katastrophe – und oft genug das Gefühl, wieder unschuldig Opfer geworden zu sein, erst Opfer Hitlers, dann Opfer der Alliierten. Diese Opferhaltung änderte sich mit der ökonomischen Konsolidierung in beiden deutschen Staaten. In der Bundesrepublik fand der Mentalitätswandel zuerst in kritisch-akademischen Kreisen, später, im Gefolge der Studentenbewegung, auch in der breiten Öffentlichkeit statt. Hin zur Akzeptanz der Täterrolle, hin zur Übernahme von Verantwortung.
Freilich blieben bestimmte Milieus von dieser Wandlung ausgespart. Besonders im nationalkonservativen Bürgertum und – organisatorisch verfestigt bei den Vertriebenenverbänden – wuchert die Opfermythologie fort: ausschließliche Konzentration auf das eigene Leid, Verschwörungstheorien, Verratsvorwürfe an die Entspannungspolitik der späten 60er-Jahre. Für die alte Bundesrepublik können wir von einem Jahrzehnte währenden Prozess der Zivilisierung sprechen. Aber auch in der DDR, wo ein verordneter Antifaschismus eine offene Auseinandersetzung mit der Opfermythologie verhinderte, sie im Fall der Bombardierung Dresdens sogar beförderte, schlug die Einsicht in die Verantwortung der Deutschen für die Folgen des von ihnen entfesselten Krieges einschließlich des Bombenkriegs der Alliierten gesellschaftlich Wurzeln.
Kann dieser Prozess zurückgeschraubt werden? Eine häufige Argumentation, die dies bejaht, sieht die gegenwärtige Schwemme der Rückerinnerung an die deutschen Opfer im Zusammenhang mit der deutschen Einheit, einem deutschen Nationalismus, der jetzt wieder sein Haupt erhebt, einem absichtsvollen Tabubruch, der die deutsche Nationalgeschichte im Zeichen einer neuen deutschen Rolle in der Weltpolitik glatt bügeln will. Vereinzelt wird sogar die These geäußert, die Erinnerung an die Opfer des Bombenkriegs sei nur auf der Folie eines neuen Antiamerikanismus verstehbar. Von der Verurteilung der amerikanischen Intervention im Irak aus werde jetzt auch die Bombardierung und Besetzung Deutschlands als imperialistisches Unternehmen gedeutet und damit die alliierte Befreiung der Deutschen vom Faschismus ihrer Bedeutung als konstitutiver Ausgangspunkt der deutschen Demokratie beraubt.
Letztere Argumentation ist nichts als der fadenscheinige Versuch, an die Stelle der gebotenen Analyse der Irakpolitik Bushs eine Verdachtspsychologie zu setzen, die keiner Auseinandersetzung mit den Fakten bedarf. Eine kunstvolle Problemverschiebung. Wie steht es mit der ersten Behauptung, eine neue Opfermythologie im Rahmen eines neuen Nationalismus zu deuten?
Untersuchen wir Friedrichs Buch „Der Brand“, so fällt in der Tat auf, dass hier zwischen dem organisierten Mord an den Juden und dem moral bombing der Alliierten mehrfach ein Gleichheitszeichen gesetzt wird, ganz so wie in den Reaktionen vieler Deutscher nach 1945. Die Bombergroup 5 wird zur „Einsatzgruppe“, die Keller der Bombenopfer werden zu „Krematorien“. Hier geht es nicht nur um eine undisziplinierte, von Emotionen überwältigte Sprache. Hier wird tatsächlich an einem neuen Opfermythos gestrickt, der die historischen Kontexte, sprich die Motive und die Voraussetzungen für die alliierten Bombardierungen, ausblendet. Friedrich versucht die Verantwortung für die totale Kriegführung gleichmäßig auf beide Seiten zu verteilen. Sein Unternehmen etabliert, was der belgische Historiker Jean-Michel Chaumont als „Konkurrenz der Opfer“ bezeichnet. Alle waren Opfer des totalen Krieges und der totalen Kriegführung samt ihren ehernen Mechanismen.
Welche Auswirkungen hat Friedrichs Buch auf gesellschaftliche Haltungen in Deutschland? Als es erschien, vertraten die Autoren der Spiegel-Serie die Auffassung, im Bombengedenkjahr 2004 werde es massenhaft besuchte Gedenkveranstaltungen geben, die zu Schauplätzen eines neuen Opferkults würden. Nichts davon ist eingetroffen. Die Schwere der Nazi-Verbrechen wurde nicht relativiert, in den empirischen Umfragen zeigte sich keine Tendenz zur Umwertung der Geschichte. Fasst man die neuerdings von den politischen Machteliten bei uns propagandierte patriotische Tugendlehre ins Auge, so ist deren ideologische Funktion beim Sozialabbau offensichtlich. Ebenso klar wird aber auch, dass der eingeforderte Stolz aufs Deutschsein sich bislang nicht mit historischen Relativierungen, gar mit der Propagierung einer neuen Opfermythologie verbindet. Die Bundesregierung in der Person des Kanzlers nimmt hier eine ambivalente Haltung ein. Auf der politisch- juristischen Ebene wird von Schröder dem Opfermythos gegengesteuert, wie neben vielen anderen Beispielen seine Ablehnung der Restitutionsforderungen deutscher Vertriebener in Warschau belegt. Andererseits verkörpert Schröder das Bild einer Generation, deren Kindheit vom Tod des Vaters als Soldat überschattet war. Belangvoll ist hier, dass der Kanzler dieses private Schicksal zum Gegenstand eines öffentlichkeitswirksamen Selbstbilds macht. Damit verleiht er der Selbststilisierung einer Generation als „Kinder des Krieges“ Ausdruck. Opfervolle Jugend/mühevoller Aufstieg/stille Trauer am Grab des Vaters. Der Kreis schließt sich …
Der Zeithistoriker Norbert Frei hat zu dem Thema Generationenfolge und Opfermythos in einem dieser Tage erscheinenden Buch einige wichtige Gedanken vorgelegt. Der Kern seiner Argumentation besteht in der These, dass im letzten Jahrzehnt an die Stelle der Ursachenforschung wie der Analyse des NS-Herrschaftssystems eine Tendenz getreten ist, die Erfahrung des Einzelnen ins Zentrum zu rücken und unter dem Signum des Verstehens sich den Tätern, vor allem aber den Mitläufern und deren Zwangslagen zuzuwenden. Der Preis für diese Wendung besteht nach Frei in einer Privatisierung des Gedenkens. Die Generation der Kriegs- bzw. Nachkriegskinder will eine Erinnerungsgemeinschaft konstituieren, in der sie selbst – wie ihre Väter und Mütter – als Opfer erscheint. Ein Unternehmen, das nicht zuletzt von den ehemals Linksradikalen der 60er und 70er betrieben wird.
Zweifellos gibt es diese von Frei diagnostizierte Tendenz zur biografischen Wende und zur Entpolitisierung der NS-Zeit. Aber werden wir hier nicht mit einem widersprüchlichen Prozess konfrontiert? Die genannte Wende ist auch die Antwort auf eine oft abstrakte, dem Einzelschicksal gegenüber gleichgültige Strukturanalyse des Faschismus und seiner Folgen.
Diese Hinwendung zum einzelnen Menschen ist nicht notwendig verbunden mit der Konstruktion eines neuen deutschen Opfermythos. Sie kann auch Ausdruck von mehr Sensibilität angesichts der Massenvertreibungen der Zivilbevölkerung und der „Kollateralschäden“ bei Luftangriffen sein, deren Zeugen wir in den letzten 15 Jahren wurden. Dann würde es sich nicht um nationalistische Opfermythologie handeln, sondern um den Ausdruck einer universalistischen, auf die künftige Durchsetzung der Menschenrechte gerichteten Hoffnung.