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Archiv-Artikel

Die Bremerhaven-Verwirrung

GLEICHZEITIGKEITEN Vor der Bürgerschaft schreien die DemonstrantInnen nach Bildung, drinnen muss man Kreuzchen-Machen üben. Nebenbei wird noch Schulz abgewatscht

„Wer jetzt die Keule rausholt, erschlägt am Ende vielleicht den Stadtstaat“

VON HENNING BLEYl

Einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss wegen der Mehrkosten der Bremerhavener „Havenwelten“ wird es frühestens nach der Sommerpause geben. Der Großprojekte-Komplex kostet rund 350 statt der veranschlagten 291 Millionen Euro, trotzdem blieb die Linkspartei mit ihrer Forderung nach einer unverzüglichen parlamentarischen Untersuchung gestern in der Bürgerschaft allein. Mindestens ein Viertel der Abgeordneten muss die Einsetzung beantragen, die Linkspartei verfügt lediglich über ein Drittel der erforderlichen 21 Stimmen.

Für die Grünen beklagt Klaus Möhle zwar „Fehler in der Projektsteuerung“, zunächst müsse jedoch der Bericht eines Sonderermittlers abgewartet werden. Das sieht auch die FDP so.

Einigkeit, selbst bei der SPD, herrscht hingegen in der Kritik am sozialdemokratischen Bremerhavener Oberbürgermeister Jörg Schulz, der kürzlich einem Gipfeltreffen über Finanzfragen im Bremer Rathaus fern blieb. Als Schulz’ einziger Verteidiger tritt der für die DVU ins Parlament gelangte Siegfried Tittmann auf. Mit der Bemerkung, Bremerhaven sei „keine Kolonie Bremens“, avanciert er sogar zum Stichwortgeber – eine Rolle, die ihm sonst keinesfalls zugestanden wird. FDP-Fraktionschef Uwe Woltemath betont, „Bremerhaven nie als Kolonie verstanden“ zu haben, sonst könne man dort ja gleich „einen Vize-König“ installieren. Auch die Grünen verwahren sich gegen „die mit dem Begriff unterstellten Ausbeutungs-Absichten“.

Bremerhaven, wo sich der Magistrat gestern nach langem Streit eine Haushaltssperre auferlegte, beweist bei Bremer Debatten immer wieder Fettnäpfchen-Potential und sorgt auch parteiintern für Kontroversen. Als Möhle die derzeit populäre Forderung, Bremerhaven mit einer verschärften Kommunalaufsicht „an die Kandare“ zu nehmen, als „großen Unfug“ bezeichnet, klatscht lediglich die SPD. Für die wiederum warnt Bürgermeister Jens Böhrnsen vor zu harten Bandagen gegenüber Bremerhaven: „Wer jetzt die Keule rausholt, erschlägt am Ende vielleicht den Stadtstaat.“ Im Übrigen habe Schulz schriftlich versichert, künftig an Gesprächen teilzunehmen.

Es ist eine Debatte mit bizarren Zügen: Für die CDU, die seit 1995 den Bremerhavener Kämmerer stellt, beklagt Wolfgang Schrörs die dortige Neuverschuldung von 86 Millionen Euro. Einen „Havenwelten“-Ausschuss hält Schrörs für derzeit nicht erforderlich.

Nach all’ diesen Volten sieht sich das Parlament außer Stande, die Wahl der NRW-Datenschutzbeauftragten Bettina Sokol zur Landesrechnungshof-Präsidentin korrekt durchzuführen. Trotz vorheriger Erläuterungen zur Stimmabgabe ist ein Großteil der Voten ungültig, weil die Abgeordneten entweder zu viele oder zu wenige Kreuzchen machen: Neben der von allen Fraktionen favorisierten Sokol steht auf Vorschlag von Jan Timke („Bürger in Wut“) der Mainzer Volkswirtschaftler Werner Müller zur Wahl. Auch die Wiederholung ist für eine Überraschung gut: Müller bekommt fünf Stimmen.