: 1.000 Euro für den Reisepass
Volmer ist weg, der Skandal geht weiter: Nur langsam beginnen die Grünen, sich mit dem Missbrauch der „Reisefreiheit“ zu beschäftigen
VON CHRISTIAN FÜLLER
Das kennt man ja. Wenn Politiker ins Zwielicht geraten, wird zunächst abgestritten, sodann die Wahrheit in homöopathischen Dosen gestückelt, schließlich die Journaille beschimpft – und (manchmal) zurückgetreten. Nur für die Grünen, das gute Gewissen aller Parlamente, ist diese Schrittfolge neu. Relativ neu.
„Meine Feinde“, so hieb der in die Visa-Affäre verwickelte Exstaatsminister Ludger Volmer noch Ende der Woche auf seine Verfolger ein, „arbeiten mittlerweile mit kriminellen Methoden.“ Da waren gerade E-Mails aufgetaucht, die das neue (Neben-)Tätigkeitsfeld Volmers beschreiben („auf dem Schoß des Botschafters sitzen“). Schon am späten Freitag dann zog sich der außenpolitische Sprecher von allen Posten auswärtiger Politik zurück. Sein Bundestagsmandat behielt Volmer.
Das kennt man ja. Wenn ein Politiker zu Wahlkampfzeiten in die Bredouille gerät, müssen die Parteifreunde erst nibelungentreu zu ihm halten – um ihm gleich darauf für den Rücktritt allen Respekt zu zollen. Seit Wochen wusste die Berliner Parteispitze gar nicht, was so schrecklich an Ludger Volmers Nebentätigkeiten sein soll – und verteidigten ihn. Kaum waren sie ihn los, rühmen sie – wie etwa gestern der heimliche Parteichef Joschka Fischer – den „respektablen Schritt“ des Parteifreundes.
Aber ist die Visa-Affäre mit dem halben Abtritt Volmers ausgestanden? Nein, denn nun wird der Blick frei für die wichtigste handelnde Person der Grünen, Außenminister Fischer. Auch die an Reiseangelegenheiten wenig interessierte Öffentlichkeit wird schnell merken, wie streng das administrativ-politische Gebräu im Fischer-Ministerium riecht.
Die Visa-Affäre besteht aus zwei Affären. Erstens wie ein Gerade-noch-Staatsminister seine amtlichen Entscheidungen und Kenntnisse dazu benutzt, sich private Geschäftsfelder zu erschließen. Zweitens darin, wie effizient und rücksichtslos die grüne Spitze des Außenministeriums begründete Einwände gegen ihre Visumpraxis übersah.
Ein eigener Untersuchungsausschuss wird der Sache im Einzelnen nachgehen. Er will überprüfen, ob und wie die grüne Visumspolitik kriminelle Schleuserbanden begünstigt hat. Was vorab durchsickert, deutet darauf hin, dass die parlamentarischen Ermittlungen den Grünen keine lustigen Monate bescheren werden. Selbst Jerzy Montag, grüner Obmann des Ausschusses, gibt unumwunden zu: Es gebe Missstände, die mit größter Genauigkeit aufzuarbeiten seien.
Offizielles Ziel der Grünen Außenpolitiker war es, bürokratische Beschränkungen und Härten bei der Einreise von Touristen zu beseitigen. Das urgrüne Ziel der Liberalität wurde im Jahr 2000 durch den Volmer-Erlass in eine neue Maxime für die Arbeit des Botschaftspersonals in aller Welt umgewandelt: „Im Zweifel für die Reisefreiheit.“ Das weltoffene Leitmotiv hat sich in der täglichen Praxis aber offenbar schnell in ein schmutziges Geschäft verwandelt. Schon für das Schlangestehen mussten Reisewillige, gerade in der ukrainischen Hauptstadt Kiew, Schutzgelder von 50 Euro bezahlen. Ein neues Versicherungsdokument, das speziell für die leichtere Einreise erstellt wurde, wurde flugs von Banden für einträgliche und oft auch brutale Geschäfte genutzt. Offiziell kostete der Reiseschutzpass 50 bis 60 Euro – tatsächlich mussten Touristen dafür 1.000 Euro an zwielichtige Figuren bezahlen. Und ihre Reisen führten sie nicht immer zu touristischen Sehenswürdigkeiten, sondern häufig in neue Abhängigkeiten – von professionellen Menschenhändlern. Ca. 250.000 Personen, schätzt man, hätten die offenere grüne Reisepraxis jährlich genutzt. Zehntausende vermeintliche Touristen, so meinen Experten, seien dadurch in Schwierigkeiten geraten, darunter Zwangsprostitution und Erpressung zur Schwarzarbeit.
Beamte des Auswärtigen Amtes vor allem in vier Deutschen Botschaften – Kiew, Moskau, Priština und Tirana – warnten ihre Berliner Zentrale vor den untragbaren Zuständen. In Kiew mussten die Kollegen bis zu 14.000 Anträge monatlich bearbeiten. Zur genauen Prüfung, so verriet ein ehemaliger Beamter der Süddeutschen Zeitung, „blieb gar keine Zeit mehr“. Ein Kollege von ihm kabelte SOS nach Berlin. „Zustände an der Visastelle der Botschaft sind chaotischer und unkontrollierbarer als prognostiziert … Mafiöse Strukturen haben sich in kürzester Zeit des Schlangenmanagements bemächtigt.“
Aber die Botschaften mochten sich noch so sehr bemühen, wegen des Missbrauchs der neuen Papiere und der Verwicklung suspekter Personen Alarm zu schlagen. Ihre Klagen, so der Vorwurf, seien in der Berliner Zentrale gering geschätzt, ignoriert und konterkariert worden. Der Untersuchungsausschuss wird klären müssen, wie dies im Einzelnen zu bewerten ist. Per Gericht wurde das Urteil bereits gefällt. Was da geschah, so der Richter in einem Prozess gegen einen Schleuser, der die grüne Praxis nutzte, sei „ein kalter Putsch gegen die bestehende Gesetzeslage“ gewesen.
Joschka Fischer und Ludger Volmer haben solche Geschäfte politisch zu verantworten. Ludger Volmer muss sich zusätzlich fragen lassen, wie er die neue Visumpraxis für sich persönlich perfektionierte. Er heuerte als Berater an – um die Herstellung von Reisedokumenten zu vermitteln. Juristisch mag das alles korrekt gewesen sein; Volmers Nebentätigkeit begann, erst ein halbes Jahr nachdem er nicht mehr Staatsminister war. An den Maßstäben der Grünen gemessen, hat es alles, was ein politischer Skandal braucht: hunderttausende Euro an Beraterhonoraren, schleimige E-Mails, feine Unterschiede zwischen Recht und Moral – und strafbewehrte Unterlassungserklärungen.
Teil drei der Visa-Affäre hat übrigens gerade begonnen: wie die selbst ernannte Partei der Sauberfrauen und -männer mit solchen Skandalen umgeht. Das kennt man noch nicht.