: Von Herzen ein Bukett von Rosen
VON STEPHAN WACKWITZ
Jürgen Habermas ist der einzige Philosoph, der mich in verschiedenen Phasen meines Lebens tatsächlich innerlich beschäftigt hat. Nicht nur dadurch, dass ich über seine Bücher, Thesen, Zeitungsartikel und Aufsätze nachgedacht hätte (das auch; und zum Teil sehr intensiv). Aber innerlich beschäftigt hat mich Habermas in den letzten Jahrzehnten zugleich immer auch als für mein Gefühlsleben bedeutsame Figur – so wie einen vielleicht Bob Dylan innerlich beschäftigen kann oder Blixa Bargeld oder Marcel Reich-Ranicki.
Ich habe immer wieder von ihm geträumt. Und zum Beispiel die langen Nachmittage, die ich in Shin-Zushi in der Nähe von Tokio am Strand des Pazifik mit den orangefarbenen Edition-Suhrkamp-Bänden der „Theorie des kommunikativen Handelns“ zugebracht habe (oder in bestimmten Cafés von Frankfurt-Bockenheim; oder im Frühstücksraum einer Münchner Pension im Winter 1994), gehören zu formativen Momenten meiner Einstellung zum Leben, zum Nachdenken, zu politischen Fragen, zu mir selbst.
Was bedeutet Jürgen Habermas als Figur meines inneren Lebens?
Innere Westbindung vielleicht an erster Stelle. So sehr ich mich hier in New York manchmal über die Resultate des exzellenten universitätspolitischen networkings seiner Fraktion wundere (die solche ja auch nicht ganz unbedeutenden deutschen philosophischen und soziologischen Schriftsteller wie Niklas Luhmann oder Peter Sloterdijk längst zu einem Nischendasein verdammt hat), so froh bin ich zugleich, dass wir mit Habermas einen deutschen Gelehrten besitzen, der international eine so bedeutende Stellung innehat wie die Philosophen, Soziologen und Historiker der großen deutschen Universitäten zu Beginn des Jahrhunderts.
Wer weiß heute noch, dass zum Beispiel W. E. B. Du Bois, der Erfinder der schwarzen Befreiungsbewegung, bei Gustav von Schmoller, Adolph Wagner und Heinrich von Treitschke studiert hat? Und dass sich deren Einfluss in seinen Ideen überall wiederfindet?
Zweitens vielleicht das durchaus Glamouröse, das Habermas dem reinen Gedanken irgendwie beizulegen weiß. Dass er eben kein fusselbärtiger Hippie ist und auch zu Zeiten nicht war, als er damit noch auffiel. Dass er mit Macht umgehen kann (vielleicht manchmal ein bisschen sehr erfolgreich). Dass er vor der Politik keine Angst hat und auch nicht vor der Rolle eines Präzeptors. Gustav Seibt hat Heinz Schlaffer mal als einen Mandarin bezeichnet, der immer zugleich auch Rebell ist. Habermas ist ein Mandarin, der gleichzeitig ein dezidierter liberal ist. Wir machen uns manchmal nicht klar, wie weit wir damit als Deutsche schon sind. Habermas verkörpert etwas positiv Väterliches im Reich des deutschen Gedankens.
Und drittens bildet sich in Habermas Stellung in meinem inneren Haushalt, glaube ich, eine Art „langer innerer Marsch“ ab, der die Ideen von 1968 in meinem eigenen Lebenslauf und in vielen Millionen anderer Lebensläufe in die Mitte der Demokratie und des modernen Lebens geführt hat (wir wissen und nehmen mit Schaudern manchmal wahr, dass es auch anders hätte ausgehen können). Siegmund Walker, der Held von „Walkers Gleichung“, ein „Glückskind des Lebens“ und wie alle solchen Glückskinder eben auch ein bisschen dumm, macht sich an einer Stelle dieses Romans bei der Habermas-Lektüre klar, „dass ja noch alles da war: die Gedanken und Gefühle seiner Jugend aufgehoben, weiterentwickelt und von Illusionen befreit in den systematischen Formulierungen des Philosophen, die seitenlang auf Selbstverständlichkeiten hinauszulaufen schienen, dann jedoch immer wieder von einem utopischen Ernst beseelt waren, der Mühe hatte, sich stilistisch zu zügeln“.
Dem habe ich nichts hinzuzufügen. Und reihe mich ein in die Gratulationscour zum Achtzigsten mit einem großen, imaginären, aber sehr ernst gemeinten und von Herzen kommenden Bukett von Rosen. Muss ich betonen, dass sie knallrot sind?
STEPHAN WACKWITZ, 57, Schriftsteller (u. a. „Neue Menschen“, 2005), leitet die Kulturabteilung des Goethe-Instituts in New York