: Graue Haare, Zeit und Geld
VON HANNA GERSMANNUND BEATE WILLMS
Schon der erste Handgriff am Morgen geht daneben. Die frische Packung Kaffee will sich nicht öffnen lassen. Fast jeder kennt das – und hat schon mit aller Kraft an der Vakuumhülle gezerrt oder versucht, mit den Zähnen eine Ecke rauszufetzen. Wenn es nicht die dritten sind.
Von wegen Muntermacher: Das braune Pulver rieselt auf Tisch, Spüle oder Küchenboden. Ein guter Einstieg in den Tag ist das nicht. „Verpackungen sind überhaupt ein Ärger“, meint Inge Hintringer. Dank ihr und anderen Senioren tüfteln heute die Designer und Produktentwickler in Konzernen wie Unilever, Sony oder BMW daran, die Tücken des Alltags zu beheben. Das Leben soll und muss bequemer werden.
Hintringer ist 69 Jahre, eigentlich längst im Rentenalter. Und genau das ist ihr Plus: Sie ist eine von 500 „Mystery Shoppern“, auch „Senior Scouts“ genannt, die bundesweit im Einsatz sind. Im Auftrag der Nürnberger Agentur für Generationen-Marketing testet sie das Angebot im Supermarkt oder den Service bei der Bank aus dem Blickwinkel älterer Menschen.
Seniorenfahnder im Einsatz
Mal fahndet sie bei Karstadt nach wieder aufladbaren Batterien. Weil die aber nur mit dem englischen Wort „rechargeable“ ausgezeichnet sind, findet sie sie nicht. Minuspunkt. Mal besucht sie mit ihrem Mann Othmar, 73, fünf Bankfilialen, um fiktive 100.000 Euro anzulegen. Dabei fällt ihr Urteil über die Dresdener Bank vernichtend aus. „Da kamen wir uns verarscht vor“, sagt Inge Hintringer. Eine junge Beraterin habe gesagt, sie könne kein lukratives Angebot machen, und lapidar hinzugefügt: „Nehmen sie sich doch einen Prospekt am Ausgang!“ Als ob es sich mit über 60 Jahren nicht mehr lohnen würde, Geld anzulegen.
Unterschätzt, verkannt, falsch angesprochen – so empfinden viele Senioren ihre Umwelt. „Viel zu langsam entdeckt die Wirtschaft die Älteren“, sagt auch Ursula Lenz von der Bundesarbeitsgemeinschaft der Senioren-Organisationen (Bagso). Die Politik ist da weiter. 1988 gründete die CDU die Senioren-Union, 1994 riefen die Sozialdemokraten die Arbeitsgemeinschaft 60 plus ins Leben, 1996 folgte die FDP mit einer Seniorenkommission, die Grünen Alten kamen 2004 hinzu. In den Geschäften dagegen ist tatsächlich noch nicht viel vom Seniorenaufbruch zu sehen. Dabei sind die über 50-Jährigen schon jetzt die heimlichen Könige unter den Kunden. Unternehmer und Werber beschäftigen sich mit ihnen immer öfter auf Konferenzen: Heute etwa veranstalten die Bagso und diverse Verbraucherzentralen in Berlin die Tagung „Ältere Menschen als Verbraucher – vergessen, uninteressant oder stark im Kommen?“. Und übermorgen lädt die Landesinitiative Seniorenwirtschaft NRW in Bonn für zwei Tage zur „1. Europäischen Konferenz zur Seniorenwirtschaft 2005“.
Viel zu lange hat die Industrie nur die 14- bis 49-Jährigen gehätschelt. Doch die Zukunft ist 50 Jahre und älter – jeder fünfte Bundesbürger ist heute über 60. Bis 2030, so schätzt das Statistische Bundesamt, wird es jeder Dritte sein: Während die Zahl der Frauen und Männer über 60 Jahre in diesem Zeitraum von 18,4 auf über 25 Millionen klettern wird, dürfte die der unter 60-Jährigen um 14 Millionen sinken. Die Bevölkerungspyramide wird zum Bevölkerungspilz.
Schon längst sind die Zeiten vorbei, in denen sich Großeltern kaum etwas leisteten. Die erste Nachkriegsgeneration hortete das Geld schon mal unter der Matratze. Ihre Erben, etwa das Ehepaar Hintringer, reisen hingegen nach Frankreich, gehen ins Kino, surfen im Internet. Sie engagieren sich bei Greenpeace, spenden überlegt, aber großzügig für gute Zwecke. Und sie kaufen gerne ein. Für sich, ihre Kinder, Enkelkinder und – mit Glück – auch für ihre Eltern.
Kaufkraft: 90 Milliarden Euro
Denn sie haben Zeit und Geld. Die Generation 50 plus, so eine Studie des Instituts für Demoskopie Allensbach, besitzt die Hälfte des Geldvermögens in Deutschland. Zwar müsse manche Rentnerin mit 400 Euro im Monat auskommen, den meisten Älteren gehe es aber vergleichsweise gut, bestätigt Bagso-Sprecherin Lenz. Hypotheken sind abbezahlt, die Kinder aus dem Haus, die Karriere ist gemacht oder abgeschlossen. Die geschätzte Kaufkraft der über 60-Jährigen beträgt pro Jahr 90 Milliarden Euro. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin hat errechnet, dass ein Zwei-Personen-Rentner-Haushalt pro Monat 1.600 Euro ausgeben kann – rund 100 Euro mehr als eine Familie mit Kindern.
Wo Geld ist, da ist die Fürsorge der Wirtschaft nicht weit. Normalerweise. Beiersdorf etwa verkauft mit Nivea Vital eine Pflegeserie für die „reifere Haut“. Wincor Nixdorf entwickelt einen Geldautomaten, bei dem die Kunden per Sprachcomputer durchs Menü gelotst werden. Vodafone hat ein Drei-Tasten-Nothandy auf den Markt gebracht, Bayard Media das Blatt Lenz. Doch das wars dann auch schon fast – die Wirtschaft sieht erstaunlich alt aus.
Auch Hans-Werner Wahl, Psychologe am deutschen Zentrum für Altersforschung in Heidelberg, fällt im taz-Gespräch auf Anhieb kein seniorengerechtes Produkt ein. Dann denkt er laut nach: „Große Tür, nicht superschnell, bequem – die A-Klasse von Mercedes.“ Ausgerechnet! „Eher Zufall“, sagt Wahl, schließlich habe die Automobilbranche besonders große Angst, ihr junges, dynamisches Image zu verlieren.
Dabei sind die Käufer der edleren Wagen häufig jenseits der 50. Die Hintringers gönnten sich die Mercedes C-Klasse zum Beispiel erst, als Herr Hintringer in Rente ging. Ein bisschen weiter als die Autohersteller sind da möglicherweise die Motorradbauer. Seit immer weniger 18-Jährige sich neben dem Auto- auch den Motorradführerschein zulegen, setzen sie immer mehr auf ältere Herrschaften, die sich einen Jugendtraum erfüllen und dafür auch noch einmal ordentlich Geld hinblättern: 20.000 Euro darf das schwere Oberklassenmodell schon kosten – wenn es denn orthopädische Sitze, womöglich mit Rückenstütze, und Griffe hat, die sich bei kühlerem Wetter beheizen lassen.
Die Werber sind zwar dem Jugendwahn verfallen. Doch sie umgarnen längst auch die „Goldies“ oder „Best Agers“. Sie beraten namhafte Konzerne wie Avis oder Danone. Ihre Regel: Wer die betuchten Älteren gewinnen will, sollte sie auf gar keinen Fall als Oldies ansprechen. Ins Konzept passt da nicht, dass einige die Zielgruppe auch „Kukidents“ nennen. Bei Senior Scout Hintringer fällt das prompt durch: „Wir sprechen ja auch nicht von der Zahnspangen-Generation.“
„Wer will schon ständig an seine Makel erinnert werden?“, erklärt Werbeprofi Gundolf Meyer-Hentschel. Er gründete vor zwanzig Jahren sein Institut für Seniorenmarketing in Saarbrücken. Wenn in Supermärkten am Regal Leselupen hingen, um die Preisschilder zu entziffern, sei „das nett, aber nicht eigentlich kundenfreundlich“. Schließlich hätten heute schon 45-Jährige Schwierigkeiten, die Zutatenliste auf der Dosensuppe zu lesen. Viel besser wäre eine größere Schrift auf dem Produkt selbst.
Profi-Shopper sind kritisch
Doch selbst die Pharmabranche, deren Kunden im Schnitt ohnehin älter sind, hat bis heute nicht verstanden. Jeder fünfte Senior ärgert sich über unleserliche Beipackzettel. An der Technischen Universität Berlin haben beispielsweise 30 Seniorinnen und Senioren Bedienungsanleitungen für Blutdruckmessgeräte geprüft – und nicht für gut befunden. „Sentha“ nennt sich die Gruppe, hervorgegangen ist sie aus dem Forschungsprojekt „Seniorengerechte Technik im häuslichen Alltag“ (www.sentha.tu-berlin.de). Inzwischen haben sie einen Verein gegründet und spüren die alltäglichen Konsumfallen auf. Die unzähligen Funktionen am Handy? Halten sie für überflüssig. Dreißig Programme an der Waschmaschine? Unsinnig.
Ältere Menschen sind Profi-Einkäufer. Anspruchsvoll, kritisch, selbstbewusst. Im Dezember hat Edeka in Chemnitz nun den ersten „Markt der Generationen“ in Deutschland eröffnet. Die Idee kommt aus Österreich: In Wien und Salzburg gibt es seit längerem zwei „50plus“-Supermärkte, die einer Edeka-Tochter gehören. Das Licht im Eingangsbereich ist gedämpft, so dass die Augen Zeit haben, sich an das Neonlicht zu gewöhnen. Die Gänge sind breit, die Einkaufswagen haben Bremsen, der Boden ist rutschfest. Die Preisschilder sind doppelt so groß wie üblich, niemand muss sich bücken, die Regale befinden sich in Augenhöhe. Alexander Lüders, Sprecher des Edeka-Konzerns, verspricht: „Einzelne Bausteine werden wir in alle Märkte einbauen.“ Sein Argument: Auch Eltern mit Kinderwagen lieben die „50plus“-Supermärkte schon jetzt. Ganz einfach: Bequem,verständlich, großzügig – damit leben alle glücklich bis ans Ende ihrer Tage.