: Im Zweifel locker bleiben
Die Koalitionäre versuchen, die Visa-Affäre mit Humor zu nehmen – noch ist es kein Galgenhumor. Joschka Fischer geht zum Gegenangriff über
AUS BERLIN LUKAS WALLRAFF
Bloß keine Panik. Die grünen Spitzenfunktionäre haben in sechs Jahren an der Regierung gelernt, wie man mit Krisen umgeht: möglichst locker bleiben. Auch an diesem Montagmorgen, der alles andere ist als ein ganz normaler Montagmorgen in der Berliner Parteizentrale. Gerade erst ist, auf Druck des eigenen Landesverbands in Nordrhein-Westfalen, der außenpolitische Sprecher der Bundestagsfraktion, Ludger Volmer, von seinem Amt zurückgetreten, und gleich kommt der Wichtigste von allen Grünen, Außenminister Joschka Fischer, um eine Erklärung abzugeben. Nicht irgendeine, sondern seine erste nach wochenlangem Schweigen zu den Vorwürfen der Union, er habe, zusammen mit Volmer, massenhaften Visamissbrauch, Schleusertum und Zwangsprostitution zugelassen, wenn nicht gar befördert.
„Ich wünsch euch viel Spaß“, ruft Jürgen Trittin dem Pressepulk zu, der im Schneetreiben vor der Tür der Parteizentrale steht und auf Fischer wartet. So viele Leute frierend in der Kälte – „das ist ja hier wie vor der Kiewer Botschaft“, sagt der Umweltminister und geht lächelnd weiter. Er weiß, dass alle wissen, worauf er anspielt. Waren es doch die Zustände rund um die deutsche Botschaft in der ukrainischen Hauptstadt Kiew, die Fischer erst in Schwierigkeiten brachten, weil dort jahrelang besonders großzügig mit Visaanträgen umgegangen wurde. Auch bei den Grünen kann niemand mehr bestreiten, dass das Auswärtige Amt trotz zahlreicher Warnungen, unter anderem von Innenminister Otto Schily (SPD), zu spät reagierte und Maßnahmen ergriff, um den Missbrauch von Reisedokumenten aufzuhalten. „Mögliche Versäumnisse und Fehler meiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter“, wird Fischer das gleich nennen, bei seiner improvisierten Pressekonferenz im Berliner Schneetreiben, für die er „die politische Verantwortung“ trage. Findet Trittin das lustig? Freut er sich gar, dass der bisher fast unangreifbar scheinende Kollege Fischer endlich auch einmal in der Defensive ist? Vielleicht. Dass Fischer erstmals in seiner Amtszeit in Erklärungsnöten steckt, dass er sich rechtfertigen muss, dass sein Heiligenschein in den letzten Wochen ein wenig von seiner Aura verloren hat, bereitet vielen Grünen insgeheim auch Freude. Ist Trittins flapsige Bemerkung also gemein, will er Fischer schaden? Wohl kaum. Sie gehört vielmehr zur grünen Inszenierung an diesem Montagmorgen. Zeugt es doch von Gelassenheit, zu scherzen.
Wäre Fischer wirklich in Gefahr, stünde tatsächlich zu befürchten, dass der Außenminister und beliebteste Politiker der Republik um sein Amt bangen muss, würden sich die Grünen keine Witze erlauben. Mit Fischer steht und fällt die rot-grüne Koalition, das weiß natürlich, bei aller Rivalität, auch Trittin. Er scheint jedoch fest davon überzeugt zu sein, dass Fischer steht. Felsenfest. Das wichtigste Beruhigungsmittel kam vom Kanzler. Schon am frühen Morgen, noch vor Fischers eigenem Auftritt, hatte sich Gerhard Schröder demonstrativ hinter seinen Außenminister gestellt. Wenn die Opposition glaube, ihn „kippen“ zu können, „dann irrt sie gewaltig“.
Mit dieser Schröder’schen Solidaritätserklärung im Rücken, fällt es Fischer leicht, sich selbstbewusst zu geben, als er vor die Parteizentrale kommt. Gut, es mag „Versäumnisse“ gegeben haben, aber über eigene Fehler redet er nicht. Auch der von ihm unterschriebene Erlass vom März 2000, in dem die Botschaften angewiesen wurden, „im Zweifel für die Reisefreiheit“ zu entscheiden, sei kein Fehler gewesen. Mit dem Missbrauch der so genannten Reiseschutzpässe, die zigtausendfach verkauft wurden, habe der Erlass gar nichts zu tun. Diese Reiseschutzpässe seien schließlich schon von der Kohl-Regierung eingeführt worden. Fischer sagt, der Union gehe es nur um „eine machtpolitische Auseinandersetzung“, und bläst zum Gegenangriff.
Kritische Fragen von den eigenen Leuten muss er nicht befürchten. Sie kommen auch nicht im Parteirat. „Wer jetzt nicht gemerkt hat, dass Geschlossenheit gefragt ist, dem ist nicht zu helfen“, sagt einer aus der grünen Führungscrew. Und der Union werde bei ihren Angriffen mangels neuer Fakten bald die Luft ausgehen. „Da wird nicht mehr viel hochkommen“, glaubt er. Ernsthaft.