: Viagra für die Wahllust
EXPERTEN-KOMMISSION Vorschläge zur Erhöhung der Wahlbeteiligung
Wenn Wahlen etwas ändern würden, wären sie verboten. Dieses Graffiti-Bonmot ist der größte Quatsch seit der Erfindung des politischen Witzes. Tatsächlich kommt es nur auf die richtige Organisation an, wie sich in regierungswechselscheuen Ländern wie Nordkorea beispielhaft zeigt. Dort, oder jetzt im Iran, weiß man, dass der Wähler manchmal zu seinem Glück gezwungen werden muss. So ähnlich dachte auch der SPD-Bundestagsabgeordnete Jörn Thießen nach dem Europawahl-Debakel seiner Partei. Seine Lösung: Wahlpflicht für alle und 50 Euro Bußgeld für jeden Verweigerer. Eigentlich eine originelle Idee, die vor allem dem ewig klammen Finanzminister gefallen müsste, aber leider verträgt es sich nicht mit unserer Demokratie. Nach der Einführung von VEB Banken nun auch noch Wahlpflicht, dafür hätten die Ostdeutschen vor zwanzig Jahren nicht die DDR zum Einsturz zu bringen brauchen. Trotzdem, das Problem ist erkannt. Wenn immer mehr Leute den Urnengang verweigern und diese Nichtwähler eines Tages vielleicht eine Nichtwählerpartei gründen, könnte die auf Anhieb die Wahl gewinnen. Dann sähe es für alle Parteien finster aus, nicht nur für die SPD.
Bundespräsident Horst Köhler hat deshalb eine Kommission mit Experten aus der Medien-, Werbe- und Showbranche eingesetzt, die unter dem Arbeitstitel „Du bist Demokrat“ konkrete Vorschläge zur Steigerung der Wahllust erarbeitete. Ob sie bereits vor der Bundestagswahl im September Berücksichtigung finden, ist völlig offen. Nicht zuletzt angesichts der Radikalität der Empfehlungen und teilweise datenschutzrechtlicher Bedenken. So sollen künftig nicht nur Telefonanrufe der Parteien beim Wähler zu Hause erlaubt sein, sondern auch die sofortige Stimmabgabe in einer Art Vorvertrag. Die entsprechende Parteizentrale würde das Votum des Angerufenen per Brief an die Wahlbehörden weiterleiten.
Das größte Potenzial zur Hebung der Wahlbeteiligung sehen die Experten jedoch in der Wahl selbst. Die soll als Riesenevent präsentiert werden, bei dem es sich lohne mitzumachen. Um Wahlen als etwas Attraktives erscheinen zu lassen, sollen sie mit Preisausschreiben verknüpft werden. Demnach wären alle Wahlteilnehmer automatisch an einer Gewinnauslosung beteiligt. Die Preise, im Interesse des Steuerzahlers von Unternehmen zur Verfügung gestellt, sollen möglichst politikfernes Wohlgefühl versprechen, um auch das Interesse traditioneller Nichtwähler zu wecken. Am besten Nix-wie-weg-Reisen, zum Beispiel eine Woche Türkei-Urlaub – den Flug bezahlt der Gewinner selbst.
Alle Wähler, die auf die siegreiche Partei gesetzt haben, bekommen zusätzlich eine Chance auf weitere attraktive Gewinne. Zum Beispiel ein Promi-Dinner im Kanzleramt oder Kaffeetrinken mit dem Bundespräsidenten nebst Gattin im Schloss Bellevue. Unter den Wählern kleiner Parteien, die gute Aussichten auf eine Koalitionsbeteiligung haben, werden Sonderpreise ausgelost, beispielsweise eine Einladung zum Fraktions-Sommerfest mit Freibier bis zum Abwinken. Speziell für Stammwähler, die sich als solche künftig auf den Wahlzetteln kenntlich machen können, wäre ein Meet and Great mit den neuen Ministern vor der Vereidigung möglich.
Die Auslosung der Hauptgewinner würde am Wahlabend im Fernsehen erfolgen – live übertragen von der großen Bühne der Wahl-Fanmeile am Brandenburger Tor. Dort soll ein buntes Show-Programm mit Künstlern wie Oliver Pocher und Xavier Naidoo das Stimmvolk den ganzen Tag in Wahllaune bringen. Auf Public-Viewing-Wänden können die lustigsten Wahlpannen und Wahlversprechen der Welt sowie Ausschnitte aus Orwells „1984“ laufen. Zwischendurch moderieren Thomas Gottschalk und Günther Jauch Wettspiele oder „Wer wird der Superwähler – und damit Gewinner von einer Million Euro?“. Die Expertenkommission schlägt überdies den Einsatz fliegender Wahlurnen vor, um Fanmeilenbesuchern eine Stimmabgabe direkt vor Ort zu ermöglichen. Die erste Prognose und die Hochrechnungen überträgt das Fernsehen ebenfalls von der Showbühne aus. Denkbar ist eine Bekanntgabe durch die Miss-Wahl-Siegerinnen verschiedener Bundesländer. Auf TV-Interviews mit „Woran lag’s?“-Fragen und Dankesantworten der Politiker an ihre Wähler und Wahlkämpfer wird gänzlich verzichtet. Dafür wird die „Elefantenrunde“ mit den Parteivorsitzenden neu konzipiert. Kerner und Beckmann fragen, Bohlen und Klum bewerten die Antworten. Horst Köhler will nächste Woche entscheiden, ob die Vorschläge umgesetzt werden. GUNNAR LEUE