Stuttgart ist Meister

In der zum zweiten Male ausgetragen Blindenfußball-Bundesliga holt der MTV den Titel

„Voy“, ruft Michael Wahl über den Fußballplatz. „Voy“, schallt es aus verschiedenen Richtungen zurück. Dank seiner guten Orientierung und seines Hörvermögens schlägt Wahl in letzter Sekunde einen Haken und entgeht so der Kollision mit seinem Gegenspieler. „Voy“ ist Spanisch und bedeutet „Ich komme“. Der 28-jährige Kölner Michael Wahl verfügt nur noch über fünf Prozent Sehkraft. Trotzdem spielt er Fußball. Auf dem Spielfeld trägt er Augenpflaster und eine Schlafbrille und kann seine Mitspieler nicht sehen. Daher muss er laut ankündigen, wenn er nach dem Ball spurtet. Tut er dies nicht, ahnden die Schiedsrichter dies als Regelverstoß.

Zusätzlich sind im Ball kleine Metallkugeln eingenäht, die ein rasselndes Geräusch erzeugen und den Spielern so Orientierung geben. Von der Seiten- und der Torauslinie des Platzes, der die Größe eines Handballfeldes hat, rufen die Trainer und die sogenannten Guides den vier Feldspielern taktische Anweisungen zu. Allein die Torhüter können sehen, dürfen aber die Torlinie nur einen Meter nach vorne verlassen und den Ball lediglich abwehren.

Obwohl es in Deutschland 145.00 blinde und weitere 500.000 sehbehinderte Menschen gibt, ist die Sportart zumindest hierzulande noch sehr jung: Erst durch die Sepp-Herberger-Stiftung und der Behindertensportverbände konnte der Punktspielbetrieb im Jahr 2008 aufgenommen werden. In der Blindenfußball-Bundesliga spielen mittlerweile neun Mannschaften. Seit dem Wochenende steht mit dem MTV Stuttgart der neue Deutsche Meister fest, der in Köln ermittelt wurde.

Heimkapitän Michael Wahl freute sich dennoch euphorisch mit seinem Verein PSV Köln nach seinem Siegtor zum 3:2 gegen Blista Marburg: „An Stuttgart kommt keiner ran. Für uns ist das ist ein großer Erfolg gleich in unserer ersten Bundesliga-Saison Vizemeister zu werden.“ Doch die Gedanken des studierten Germanisten kreisen schon um die in der nächsten Woche beginnende Europameisterschaft im französischen Nantes, wo Wahls Debüt im Nationaldress bevorsteht.

Neben Michael Wahl ist auch Mulgheta Russom (30) vom neuen Meister MTV Stuttgart für die deutsche Auswahl in Frankreich dabei, auch wenn er am Wochenende beim 6:0 gegen den VfB Gelsenkirchen ohne Torerfolg blieb. Vor zehn Jahren verlor der Tübinger bei einem Autounfall die Sehfähigkeit. „Ich war schon immer sportverrückt und habe überall mitgemischt“, sagt Russom. „Vor dem Unfall habe ich auch lange im Verein Fußball gespielt – aber nur unterklassig.“ Jetzt ist er Deutscher Meister. „Als dann sogar der Bundestrainer anrief und mich zur Nationalmannschaft einlud, war ich richtig baff“, sagt Russom.

Gemeint ist er: Ulrich Pfisterer (57), seit Frühjahr offiziell Bundestrainer der Blindenfußballer und einer der Wegbereiter des Sports in Deutschland. Über 30 Jahre hatte der Diplomsportlehrer in Australien verbracht und sich dort auf die Betreuung von Teams aus dem Behindertensport spezialisiert. „Wir haben noch einen weiten Weg vor uns. Was in anderen Ländern seit Jahrzehnten für den Sport gemacht worden ist, steckt hierzulande noch in den Kinderschuhen,“ sagt er. In der kommenden Woche geht es in der Gruppe A gegen England, Frankreich und Italien, die auch im Blindenfußball Fußballgroßmächte sind. „Ein Unentschieden wäre schon ein Erfolg“, sagt Pfisterer, aber: „Gewonnen haben die Jungs schon heute.“ JON MENDRALA