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Archiv-Artikel

Brandenburger Tor bleibt schutzlos

Gutachten des Ex-Verfassungsrichters Dieter Grimm kommt zum Schluss: Nur an Mahnmalen für NS-Opfer kann die freie Wahl des Kundgebungsortes eingeschränkt werden. Heute diskutiert der Bundestag über Schilys Vorschlag zum Versammlungsrecht

VON CHRISTIAN RATH

Generelle Demonstrationsverbote am Brandenburger Tor verletzen das Grundgesetz. Zu diesem Schluss kommt ein Gutachten des Ex-Verfassungsrichters Dieter Grimm, das der taz vorliegt. Für zulässig erklärt Grimm allerdings den Schutz des nahe gelegenen Holocaust-Mahnmals durch Demonstrationsverbote.

Anlass für das Gutachten war eine NPD-Demonstration am Brandenburger Tor in Berlin im Januar 2000, die sofort heftige Forderungen nach einer Verschärfung des Demonstrationsrechts auslöste. Ebendieses Thema wird heute der Bundestag erörtern – aus Furcht vor einer vergleichbaren Veranstaltung im Mai aus Anlass des 60. Jahrestags des Kriegsendes.

Vor vier Jahren beauftragte Bundesinnenminister Schily Grimm, der jahrelang die Karlsruher Rechtsprechung zur Meinungs- und Versammlungsfreiheit geprägt hat, mit einem Gutachten, um den Rahmen für mögliche Änderungen zu beschreiben. Dieses geht nun davon aus, dass das Grundgesetz um der freien gesellschaftlichen Debatte willen sogar „Meinungen, die sich gegen die Grundprinzipien der Verfassung richten“, hinnimmt. Auch die Wahl des Ortes einer Versammlung sei frei. Die Demonstranten dürften auch gezielt Orte wählen, von denen sie sich eine besondere Wirkung versprächen.

Ausnahmen hält der Verfassungsrechtler nur an Stätten für zulässig, „die an die staatlich organisierte systematische Entwürdigung und Ausrottung von Personen, etwa wegen ihrer Rasse, gemahnen“. Er begründet dies damit, dass die Menschenwürde das oberste Prinzip der Verfassungsordnung sei. Das Gutachten stützt insoweit Innenminister Schily, der vorige Woche einen Gesetzentwurf vorstellte, mit dem Demonstrationen am Holocaust-Mahnmal verboten werden könnten.

Die Expertise ist aber alles andere als ein Gefälligkeitsdienst für Schily. Vielmehr kritisiert Grimm auch einen ersten Entwurf des Innenministeriums aus dem September 2000, der Kundgebungsverbote zum Schutz „erheblicher Belange“ der Bundesrepublik ermöglichen wollte. Das Grundgesetz lasse Demoverbote nicht zu, wenn es nur um den Schutz von „Regierungsabsichten“ oder außenpolitischen Interessen gehe. Vermutlich deshalb hat Schily das Gutachten bisher auch nicht veröffentlicht.

In der heutigen Debatte im Bundestag wird es jedoch eher gegen die CDU/CSU verwandt werden, die den befriedeten Bezirk (früher: Bannmeile) um den Reichstag bis zum Brandenburger Tor ausweiten will. Zu diesem Thema heißt es in Grimms Gutachten: Das Tor sei keine Stätte, „die an die staatlich organisierte Entwürdigung von Personen und Personengruppen“ erinnere und komme für besonderen Schutz nicht in Betracht.

Es ist bekannt, dass Grimms Nachfolger in Karlsruhe, Wolfgang Hoffmann-Riem, ähnlich liberale Positionen vertritt. Das Gutachten beschreibt also vermutlich recht genau die Haltung des Bundesverfassungsgerichts bei einer Prüfung neuer Gesetze.