piwik no script img

Archiv-Artikel

Die Quellen der Moderne

Das Museum Kunst Palast in Düsseldorf zeigt „Im Rausch der Kunst“ – Jean Dubuffet und die Art Brut. Die zwanglose Gegenüberstellung von ursprünglicher und akademischer Kunst stellt Analogien her

Es ist merkwürdig, dass man so viele Outsider-Künstler in der Schweiz findet

VON PETER ORTMANN

Henry Darger floh mit 17 aus einer Einrichtung für geistig Behinderte. Danach arbeitete er als stiller und sehr reservierter Mensch ein halbes Jahrhundert als Reinigungskraft in einem Chicagoer Krankenhaus. Nach seinem Tod fand sein Vermieter einen Schatz. Eine 2.000 Seiten Autobiografie, 15.000 Seiten literarische Werke und dazu Hunderte von Zeichnungen, auf denen sich die sieben „Vivian Girls“ tummeln, kindliche Heldinnen mit männlichem Geschlecht.

Einen ganzen Raum füllen die großformatigen, brutalen Girlie-Geschichten jetzt im Düsseldorfer Museum Kunst Palast. Darger ist einer der Künstler, deren Werke an der Ausstellung „Im Rausch der Kunst - Dubuffet und Art Brut“ teilnehmen. Dem französischen Kunstrebellen Jean Dubuffet (1901-1985) hat man in der Landeshauptstadt 51 Künstler der so genannten Outsider-Kunstszene gegenübergestellt, von denen Dubuffet viele als erster gesammelt hat. „Es ist schon komisch, dass man eine solche Ausstellung noch nie gemacht hat“, sagt Museumschef Jean-Hubert Martin. Der Franzose leitet die Geschicke der Kultur-Stiftung Museum Kunst Palast seit dem 1.1. 2000. Bereits in den 1940er Jahren stieß Dubuffet auf die Kunst der sozialen Außenseiter. Er war damals auf der Suche nach den Ursprüngen der Kunst, suchte die unverbrauchten Künstler, „die nichts von der ausgebildeten Kunst wussten“, so Martin. Er fand sie in den schweizerischen Anstalten für Geisteskranken, wo die außergewöhnlichen Werke der Insassen bereits seit den 1920er Jahren gesammelt wurden. Dubuffet sammelte sie ab sofort auch und legte so den Grundstock für die Collection de l‘Art Brut in Lausanne, von wo auch die meisten der Exponate stammen. Es seien auch Künstler kuratiert worden, die Dubuffet nicht gekannt habe, Henry Darger gehört dazu. Und viele aus den osteuropäischen Ländern, die erst nach dem Zusammenbruch des eisernen Vorhanges bekannt wurden.

Ob es mit dem konservativen Gesellschaftssystem in der Schweiz zusammenhängt, dass so viele der Outsider-Künstler von dort kommen, mochte Martin nicht belegen. Tatsache ist aber, dass dort die kunstgeschichtliche Schublade begründet wurde. Held der ersten Stunde war der ehemalige Ziegenhirt Adolf Wölfli (1864-1930), der nach seiner Einweisung in eine Irrenanstalt unermüdlich arbeitete. Er bekam vom Psychiater Walter Morgenthaler bereits 1921 eine erste Monografie: „Ein Geisteskranker als Künstler“. Wölflis Werk ist gigantisch. 25.000 Seiten penibel gezeichneter literarischer Gegenwelten umfasst es. Selbst Sprachaufnahmen von ihm sind erhalten.

Auch die Arbeit des streitsüchtigen Slovaken Johann Hauser (1926-1996) wird wissenschaftlich ausgewertet. Nach seiner Einweisung in die psychiatrische Klinik in Klosterneuburg bei Wien ermutigt ihn sein Arzt Leo Navratil zu zeichnen. Für Hauser werden die ersten farbigen Illustrierte zu einer Fundgrube für seine bösen Bilder. Als deutscher Stern am Art Brut Himmel gilt seit den 1980er Jahren Friedrich Schröder-Sonnenstern. Er kam 1910 in die Heilanstalt, weil er einen Polizisten mit dem Messer bedroht hatte. Erst mit 60 Jahren beginnt Schröder-Sonnenstern künstlerisch zu arbeiten. Seine mythologisch verbrämten Bilder erinnern an frühe Darstellungen auf kirchliche Votivtafeln, bilden aber einen eigenen Kosmos. Nach 10 Jahren hörte Schröder-Sonnenstern von heute auf morgen wieder auf zu arbeiten. Seine Werke gehören heute zu den gesuchtesten und teuersten Blättern auf dem Markt.

Über zwei Etagen sind im Museum Kunst Palast die 80 Arbeiten, Gemälde, Zeichnungen und Skulpturen von Jean Dubuffet verteilt. Sie wurden alle an der Wand blau hinterlegt, grenzen sich so harmonisch von den 350 Werken der Autodidakten in der rohen Kunst ab, bilden die Wirbelsäule des Kunstrausches. Der Besucher soll mögliche Analogien zwischen den Werken herstellen können. „Es ist aber schwierig formale Vergleiche zu finden“, sagt Museumschef Martin bei der Präsentation der Ausstellung. Es sei eher der künstlerisch ungebildete Geist des Art Brut gewesen, den der Kunstkenner und -Macher Dubuffet nutzte. Von diesen Gegensätzen lernte auch die Moderne. „Es gibt für sie zwei Quellen“, sagt Martin. Die eine sei die Kunst der Primitiven aus Ozeanien gewesen, die andere die Outsider Kunst. Dazu zählt er aber nicht nur die Werke aus den Heilanstalten, sondern auch naive Kunst von Gefängnisinsassen und von Unbekannten aus den sozialen Randgruppen der Gesellschaft. Eigentlich war die wunderbare Dokumentation des optischen Streits zwischen ursprünglicher und akademischer Kunst nur für Düsseldorf konzipiert. Doch sie wandert im Anschluss nach Lausanne und Lille.

19.02. bis 29.05.2005