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Archiv-Artikel

Nackte ertragen und das Zittern lernen

Erniedrigung und Voyeurismus: In „Context # 2 Traumatisierte Körper“ steht der Umgang mit Gewalt und ihre Repräsentation in der Kunst im Mittelpunkt. Arbeiten von Choreografen, die in krisenhaften Situationen leben, stehen neben Produktionen, die zeigen, dass Traumatisierung permanent stattfindet

Wer hat die Situation verursacht? Wer trägt die Verantwortung? Ist sie entschuldbar?

VON ASTRID HACKEL

Schon Platon wusste um die seelische Qual des Menschen angesichts eines verstümmelten Körpers. Hin- und hergerissen zwischen den widerstrebenden Kräften von Anziehung und Abstoßung möchte er einerseits hinsehen, den grausamen Anblick andererseits aber vermeiden. Was ist das für ein Verlangen, das uns dahin treibt, Erniedrigung und Schmerz anschauen zu wollen?

Das Tanzstück „La Pornographie des Âmes“ von Dave St.-Pierre, dem Enfant terrible des kanadischen Tanzes, stellt sich diesem zwiespältigen Voyeurismus. In rasantem Tempo, schnell wie eine Technoparty, zwingt St.-Pierre das Publikum, zum Zeugen von Gewalt, Tod und Pornografie zu werden. Der Anblick nackter Körper, die nicht dem klassischen Schönheitsideal entsprechen, wirkt ungewohnt auf einer Bühne, die den Tänzer normalerweise von seiner schönsten Seite zeigt.

Das Stück ist programmatisch für das Festival „Context # 2 Traumatisierte Körper“ in den HAU-Theatern, das Performances, Vorträge, Filme und Workshops versammelt, die das verletzbare Individuum und unsere ambivalente Haltung ihm gegenüber in den Vordergrund rücken.

Zumutungen werden bewusst in Kauf genommen. „Für mich ist Kunst als Zumutung durchaus etwas Positives“, sagt die Kuratorin Bettina Masuch, die mit „Context“ nach einem Brückenschlag zwischen Choreografie und Welt sucht. Zumutungen setzen Diskussionen in Gang: Was berührt und bewegt uns, wenn wir uns hässliche und grausame Bilder angucken? Warum setzen sich Künstler damit auseinander?

In „Context # 2 Traumatisierte Körper“ geht es weniger um die Interpretation des Begriffs „Trauma“, als vielmehr darum, ein Spektrum der unterschiedlichen Formen der Traumatisierung zu präsentieren. Arbeiten von Choreografen, die in krisenhaften Situationen leben, stehen neben Produktionen, die zeigen, dass Traumatisierung permanent und überall auf der Welt stattfindet. Nicht zuletzt sind Schock und Trauma ein Thema für den Tanz, weil sie ihren Ausdruck unmittelbar im Körper finden.

Die junge israelische Choreografin Yasmeen Godder fragt in ihrer Produktion „Strawberry Cream and Gunpowder“ danach, wie wir es schaffen, mit den Bildern von Selbstmordattentaten und Kriegsschauplätzen zu leben. „Bevor ich die Arbeit begann, wusste ich, dass ich das nicht länger ignorieren kann. Ich wollte nichts Politisches machen, eher vom menschlichen Standpunkt ausgehen. Ich befasse mich mit Bildern – nicht mit einem Konflikt“, sagt sie. Ihr Tanzstudio ist kein Ort der Zuflucht mehr, um die Realität zu vergessen – Yasmeen Godder hat den Alltag mit den Zeitungsbildern der Anschläge und den Aufnahmen der Opfer zurückgeholt. Mögliche emotionale Haltungen Außenstehender werden reflektiert: Ob sie mit Entsetzen, Identifikation oder Gleichgültigkeit reagieren. „In Israel müssen wir jeden Tag mit der Situation umgehen und haben dadurch eine innere Distanz aufgebaut. Wir lassen die Bilder nicht mehr an uns heran. Ich wollte die Distanz zwischen dem Subjekt und dem Bild sprengen. Und darüber hinaus auch die Spannung zwischen den Tänzern und den Fotos.“

Wie in einem Rollenspiel versetzen sich die Performer in den Augenblick, in dem das Foto entstanden ist. Die Aufnahmen werden zu Tableaux vivants. Dabei kam es Yasmeen Godder nicht auf die Identifikation mit einer sterbenden oder schwer verletzten Person an, sondern darauf, einen Ausschnitt aus ihrem Leben zu transformieren – und über die Macht der Bilder nachzudenken.

Es geht darum, die Distanz zwischen dem Subjekt und dem Bild zu sprengen

Auch die Schriftstellerin Susan Sontag beschäftigte sich mit der Kraft der Fotografie, die mehr Empfindungen zu wecken vermag als ein Schlagwort oder ein Dokument. In ihrem 2003 erschienenen Essay „Das Leiden anderer betrachten“ revidierte sie ihre einstige These, dass der Mensch angesichts des Leids, das andere einander antun, abstumpfe. Bilder vom Leiden anderer, so Sontags veränderte Ansicht, sind vor allem eine Aufforderung zu mehr Aufmerksamkeit, zum Nachdenken und zu verstärktem Engagement. Fotos von Kriegsschauplätzen stellen Fragen: Wer hat die Situation verursacht? Wer trägt die Verantwortung? Ist sie entschuldbar? Haben wir bisher eine Situation akzeptiert, die zu hinterfragen gewesen wäre? Moralische Empörung und Mitgefühl können nicht handlungsbestimmend sein.

Traumatisierungen sind nicht nur ein Symptom der Krisen der Gegenwart. Über das kulturgeschichtliche Spektrum des Traumas spricht der in Frankfurt und Tel Aviv lehrende José Brunner in seinem Vortrag „Wenn der Schrecken in den Knochen sitzt: Bilder der Traumatisierung von Darwin bis Derrida“. Unter der leitenden Frage, ob Bilder der Traumatisierung das Ende der Sprache markieren, wird Brunner sowohl auf die Hysterikerinnen der Jahrhundertwende als auch auf die so genannten Kriegszitterer des Ersten Weltkriegs eingehen.

Tatsächlich standen beide historischen Figuren ob ihrer außerordentlichen körperlichen Transformationen im Mittelpunkt von choreografischen Recherchen, etwa bei Meg Stuart und Yvonne Hardt. Workshops, in denen man das Zittern lernen und erfahren kann, wie sich dabei die Wahrnehmung der äußeren Welt verändert, werden als Geheimtipp in der Tanzszene herumgereicht.

So überschneiden sich in dem Thema „Traumatisierte Körper“ verschiedene Perspektiven der Referenz an die Wirklichkeit und der Forschung, was den Körper bewegt.

„Context # 2 Traumatisierte Körper“, 19–27. 2. im HAU 1–3