: Die Diktatur der Raffkes
Tunesien wird als liberales Urlaubsland wahrgenommen. Die tunesische Journalistin Sihem Bensedrine kritisiert die mafiösen politischen Strukturen und sieht Reiseveranstalter in der Pflicht, den touristischen „Code of Ethics“ in ihrem Land umzusetzen
INTERVIEW ROBERT B. FISHMAN
taz: Frau Bensedrine, warum wissen so wenige Deutsche über die repressiven politischen Zustände in Tunesien Bescheid, obwohl es ein beliebtes Reiseziel der Deutschen ist?
Sihem Bensidrine: Man verkauft den Touristen ein heiles, problemfreies Produkt. Tunesien investierte sehr viel in seine Imagepflege. Ich und andere Oppositionelle, wir führen zusammen mit amnesty international, kritischen Journalisten und Reporter ohne Grenzen einen regelrechten Krieg um die Wahrheit. Wir versuchen darüber zu informieren, dass Tunesien, aber auch viele andere Länder, die sich als heile Reisewelten darstellen, für die Einheimischen ein Gefängnis sind.
In Deutschland gilt Tunesien als das liberalste und weltoffenste unter den arabischen Ländern. Stimmt dieses Bild denn überhaupt nicht?
Wir haben in Tunesien einen recht hohen Bildungsstand, gebildete Jugendliche, eine relativ gute Gesundheitsversorgung. Aber das ist nichts, was Präsident Ben Ali dem Land gebracht hätte. Schon 1956 haben wir die Frauenrechte erstritten. Die allgemeine Schulpflicht gilt seit 1960 – für Jungen und für Mädchen. Auch die Infrastruktur für das Gesundheitswesen stammt aus dieser Zeit. Aber das ist doch kein Grund, dass man uns unsere Freiheit vorenthält. Es ist paradox: Die tunesische Diktatur instrumentalisiert den sozialen Fortschritt, den wir erreicht haben, gegen uns.
Und wie sehen Sie Tunesien im Vergleich zu den anderen arabischen Ländern?
Mit Saudi-Arabien würde ich keinen Vergleich wagen, mit Libyen auch nicht. Aber die Marokkaner, Algerier, Ägypter haben mehr Freiheiten, als wir in Tunesien, viel mehr. Dort gibt es mehr Pressefreiheit, mehr Versammlungsfreiheit.
Wer könnte Sie von Europa aus wie im Kampf für die Menschenrechte in Tunesien unterstützen?
Den meisten Einfluss hätten die großen Reiseveranstalter. Die Regierungen der Reiseländer – nicht nur Tunesiens – haben Angst vor der wirtschaftlichen Macht der Reiseveranstalter. Man könnte die Regierung zum Beispiel mit einer Kampagne unter Druck setzen, damit sie die ethischen Vereinbarungen, die es im internationalen Tourismus ja gibt, wirklich beachten. Dazu müsste man den Reiseveranstaltern konkrete Vorschläge vorlegen: zum Beispiel einen Solidaritätsfonds für die Opfer der Unterdrückung. In einen solchen Fonds könnten die Veranstalter vielleicht 0,0001 Prozent der Einnahmen aus dem Tourismus in dem jeweiligen Land einzahlen. Das würde nicht nur dem Image der Diktatur schaden, sondern auch Druck auf die jeweiligen Regierungen ausüben. Helfen würde meiner Meinung nach auch ein Ranking der Freiheit in unterschiedlichen Ländern. Das könnte z. B. die Welttourismusorganisation WTO machen. Sie könnte ihre Bewertungen nach den Vorschlägen der Menschenrechtsorganisationen in den jeweiligen Ländern vornehmen.
Welche Argumente haben die Reiseveranstalter überhaupt, um von Regierungen die Achtung der Menschenrechte zu fordern?
1999 hat die Welttourismusorganisation in Santiago de Chile offiziell einen Code of Ethics, also ethische Standards für den Tourismus, verabschiedet. Diese Standards binden die Reiseveranstalter wie ein Gesetz. Das sind nicht irgendwelche Vorschläge, sondern verbindliche Festlegungen. Damit haben wir ein Instrument. Nun kommt es darauf an, diese auch umzusetzen.
Man kann ja viele ethische Regeln verabschieden. Die Frage ist: Wer achtet darauf, dass Regeln eingehalten werden? Welche Sanktionen gibt es?
Es stimmt, dass es keine Sanktionen gegen diejenigen gibt, die sich nicht an den Ethikcode halten. Die Medien müssen darüber berichten, wenn sich Regierungen und Reiseveranstalter nicht an die Bestimmungen halten.
Läuft denn ein Tourist, der die politische Situation in Tunesien anspricht, Gefahr, Probleme zu bekommen oder verhaftet zu werden?
Touristen gehen kein großes Risiko ein. Schlimmstenfalls setzt sie die Polizei in das nächste Flugzeug und schickt sie nach Hause. Da gehen die Menschen in Tunesien ganz andere Risiken für die Freiheit ein: Folter, Trennung von der Familie, Gefängnis. Im Vergleich dazu ist das Risiko, nach Hause geschickt zu werden, nicht groß.
Sprechen die Menschen in Tunesien offen über ihre Schwierigkeiten und die politische Situation oder vermeiden sie diese Themen lieber, aus Angst vor Repression?
Die Leute haben Angst. Bevor sie über Politik sprechen, schließen sie die Fenster und schalten die Handys aus. Den Touristen erzählen sie, dass alles in Ordnung ist. Es dauert seine Zeit, bis man das Vertrauen der Menschen gewinnt. Aber wenn das Vertrauen da ist, erzählen die Tunesier gerne und viel – solange kein Polizist in der Nähe ist. Drei Viertel der Polizisten bei uns sind in Zivil. Eigentlich reicht es, wenn man sich als Tourist vor der Reise mit den Problemen im Land beschäftigt hat und man sich dann auf sein Gefühl verlässt. Dann findet man einen guten Weg.
Welche Idee oder Ideologie steht hinter der Diktatur Ben Alis?
Keine. Den Machthabern geht es nur darum, möglichst viele öffentliche Ressourcen für die Familie Ben Ali abzuzweigen. Das ist Korruption und die Anhäufung öffentlicher Reichtümer auf den Konten der regierenden Clique. Das ist ihr einziges Ziel. Wir haben eine mafiöse Diktatur.