Der Kampf um Kiel

Noch kürzlich meinte die CDU, Schleswig-Holstein im Sack zu haben. Das war voreilig, denn nun liegt die SPD vorn

AUS KIEL ESTHER GEISSLINGER

Alle, alle waren sie da: Gerhard Schröder und Joschka Fischer, Angela Merkel und Guido Westerwelle. Dazu tourte jede erdenkliche Berliner Politprominenz durch die Dörfer und Kleinstädte an Nord- und Ostsee. Denn plötzlich geht es wieder um etwas bei der Landtagswahl morgen in Schleswig-Holstein.

Im vergangenen Frühling, selbst noch im Sommer hätte das kaum jemand gedacht: Die CDU mit ihrem Spitzenkandidaten Peter-Harry Carstensen schien das nördlichste Bundesland schon im Sack zu haben, die SPD-Getreuen liefen mit gesenkten Köpfen herum – sie hatten sich noch nicht wieder erholt von der Kommunalwahl 2003, als das Land sich fast flächendeckend schwarz färbte. Doch dann schoss die CDU ein paar hübsche Eigentore, und allmählich kippten Stimmung und Umfrageergebnisse. Nun sehen die Prognosen Rot-Grün knapp vorn (siehe Kasten).

Es geht tatsächlich um etwas. Darum, wie die Reformen der Bundesregierung vom Volk aufgenommen werden: Die Schleswig-Holstein-Wahl ist die erste unter dem Eindruck von Hartz IV. Es geht um die Frage, ob eine rechte Partei – die NPD – nicht nur im Osten, sondern auch im Westen den Sprung in ein Landesparlament schafft. Und um die Frage: „Eine Schule für alle oder besser das dreigliedrige System?“, über die in Schleswig-Holsteins erstmals in einer Wahl abgestimmt wird und deren Beantwortung Modell für die ganze Republik werden könnte (die taz berichtete).

Oder geht es vielleicht gar nicht um Themen? Mehr um Personen, um Emotionen? Statt mit Inhalten wirbt die SPD nur mit „HE!DE“, die CDU verspricht, ihr Kandidat Carstensen sei „Einer von uns“. Wahlkampfhilfe leisteten Themen, die gar nichts mit Schleswig-Holstein zu tun haben: So spült möglicherweise die Flutwelle in Asien einige Stimmen der SPD in die Urne; Krisen helfen bekanntlich der Regierungspartei. Kanzler Schröder verzichtete nämlich kurz nach dem Tsunami auf einen Wahlkampfauftritt in Schleswig-Holstein. Als er dann einige Wochen später anreiste, wollten ihn mehr als 3.000 Menschen sehen. Die Bündnisgrünen wiederum könnte Fischers Visa-Affäre schwächen.

Landesthemen dagegen, so scheint es, spielen wohl die geringste Rolle. Dass an der Westküste ein paar Landwirte Protestschilder gegen den grünen Umweltminister Klaus Müller aufstellen, weil der flächendeckend ganze Regionen als Naturschutzgebiete auswies, stört schon in der Osthälfte des Landes kaum jemanden. Auch der bevölkerungsstarke und damit wahlentscheidende Speckgürtel nördlich von Hamburg interessiert sich wenig für die Eiderstedter und ihr Vogelschutzgebiet. Selbst der Bau der Autobahn 20, der große Aufreger der Kommunalwahlen 2003, scheint niemanden mehr hinter dem Ofen hervorzulocken: Die SPD hat deutlich gemacht, dass die Straße gebaut wird, und die Grünen werden die Kröte schlucken, obwohl sie im Prinzip weiter dagegen sind.

Wenn die Koalition denn fortbesteht. Gewollt ist sie von beiden Partnern: Rot und Grün haben in den vergangenen fünf Jahren gut zusammengearbeitet, es tun sich keine gewaltigen Brüche auf, auch atmosphärisch passt es. Und die weibliche Doppelspitze – Heide Simonis als Ministerpräsidentin, Anne Lütkes als ihre Stellvertreterin – lässt sich gut als Beweis für erfolgreiche Frauenpolitik verkaufen. Aber es könnte knapp werden für die jetzige Regierung: Die Polit-Auguren sehen ein Kopf-an-Kopf-Rennen am Wahlabend.

Mehrere Szenarien sind denkbar. Das von allem am meisten gefürchtete ist, dass die NPD den Sprung über die Fünfprozenthürde schafft. Folge wäre dann vermutlich eine große Koalition. Möglich wäre aber auch, dass die NPD unter 5 Prozent bleibt, es aber dennoch nicht für eines der Lager reicht. In diesem Fall käme eine schleswig-holsteinische Besonderheit ins Spiel: der SSW, Vertretung der dänischen und friesischen Minderheit. Die Partei ist von der Fünfprozentklausel befreit und hat einen Sitz im Landtag garantiert – zurzeit gibt es drei SSW-Vertreter im Kieler Parlament. Der SSW bietet an, eine Minderheitsregierung zu tolerieren, nach skandinavischem Vorbild. Der SPD wäre im Falle eines Falles eine echte Koalition lieber – aber am Tag vor der Wahl schließt niemand mehr etwas aus.