Angst und Arien

KUNST IM ÖFFENTLICHEN RAUM In Mülheim verwandeln Künstler die Stadtbahnstation Eichbaum in eine Opernbühne – und bekämpfen ein „festgefressenes Gefühl der Angst“

Warum ausgerechnet eine Oper? Weil das etwas Utopisches ist und den völligen Gegenentwurf zum Eichbaum bildet

VON ANDREAS WYPUTTA

Eine architektonische Katastrophe: Auf beiden Seiten der Mülheimer Stadtbahnstation Eichbaum dröhnt der Verkehr der Autobahn 40. Bis über die Köpfe der Fahrgäste winden sich die Bahnen der Schnellstraße, die mit 140.000 Autos am Tag zu den meistbefahrenen der Republik gehört. Wer im Mülheimer Stadtteil Heißen auf die andere Seite der Autobahn will, muss durch den Eichbaum. Die Station dient auch als Unterführung – und wirkt doch wie eine Falle: Sie ist schmutzig und verwinkelt. Nach einer Vergewaltigungsserie Anfang der Achtzigerjahre wurden Teile der Eingänge seitlich vergittert, potenzielle Täter sollen sich nicht mehr im Gebüsch neben den Zugangswegen verstecken können.

„Zombifizierte Moderne“ hat Peter Glaser, Gründer des Chaos Computer Clubs, den Eichbaum bei der Duisburger Konferenz „Paradoxien des Öffentlichen“ genannt. „Die Leute haben Angst, hier durchzugehen, hier in die Bahn zu steigen“, sagt Reinhard Liedtke, der in der Nähe wohnt. „Steig bloß nicht am Eichbaum aus!“, das habe sie ihrer Tochter immer eingeschärft, sagt Liedtkes Frau Ingrid.

Objektiv passiere am Eichbaum wenig, sagt der Bezirkspolizist Peer Gervers. „Aber Angst ist subjektiv. Ich muss ganz ehrlich sagen, ich fühle mich hier auch nicht wohl.“ Dabei ist Mülheim-Heißen alles andere als ein sozialer Brennpunkt: In der ehemaligen Krupp-Arbeitersiedlung Heimaterde kennt noch immer fast jeder jeden, und auf der anderen Seite der Autobahn haben sich Reihenhäuschen mit kleinen Gärten dahinter und großen Autos davor breitgemacht. Verschrien sind lediglich die Wohnblöcke der „Klotzdelle“, in der viele Spätaussiedler aus Russland leben. „Da wohnen die Verbrecher“, glauben die Nachbarn mit dem eigenen Häuschen.

Sozialäquator Autobahn

„Ein Sehnsuchtsort“ sei der Eichbaum, sagt Matthias Rick vom Architekten- und Künstlerkollektiv raumlaborberlin: Gerade für Jugendliche sei die Stadtbahnstation der einzige Ort in der Nachbarschaft, wo sie, geschützt durch den Lärm der Autobahn, jeder sozialen Kontrolle entkommen könnten. Rick wirkt schockiert wie fasziniert von der A 40, die in den autobegeisterten Sechzigern als „Ruhrschnellweg“ immer größer, breiter, tiefer durch die Städte gefräst wurde und das Revier heute von Dortmund bis Duisburg wie ein Sozialäquator zerschneidet: Im Süden lebt das dienstleistungsorientierte Bürgertum, im Norden verschwindet mit den letzten Zechen gerade die einstige Existenzgrundlage des Ruhrgebiets. Im Tunnel verborgen ist die Autobahn nur unter der Essener Innenstadt – für einen längeren Deckel hat das Geld nicht gereicht.

Zurück bleibt eine Schlucht direkt neben Wohnhäusern, an manchen Stellen bis zu zehn Meter tief, auf dem Mittelstreifen die zum Eichbaum führende U18. „Als wir das erste Mal hier waren, haben wir die Wände hochgeschaut und gesagt: Da spielen ja Kinder“, staunt Rick noch heute. Ohne einen einzigen Stein zu versetzen, will der Architekt zumindest den Eichbaum wieder in den Ort der Kommunikation zurückverwandeln, der er vor dem Autobahnbau war: als sich Familien aus Mülheim-Heißen an der Gaststätte „Becker am Eichbaum“ trafen, um Feste zu feierten. Ricks Mittel: eine Oper.

Warum ausgerechnet Oper? Warum kein zu den Graffiti passender Hiphop oder wenigstens Theater? „Wir wollten etwas völlig Utopisches“, sagt der 44-Jährige, „den völligen Gegenentwurf für diesen Ort des Aufbruchs, der Hoffnung, der Verzweiflung“. Zwischen den Autobahntrassen konnte das raumlabor-Team zwar kein opulentes Opernhaus bauen, doch aus mehreren Containern entstand immerhin eine beeindruckende Opernbauhütte. In der arbeiten Komponisten und Librettistinnen, Dramaturgen und Rechercheure des Gelsenkirchener Musiktheaters im Revier, dem Schauspiel Essen und dem soziokulturellen Zentrum Ringlokschuppen seit Monaten an drei Kurzopern, die zusammen die Eichbaumoper formen sollen.

Fast nebenbei geben die Künstler dabei dem Eichbaum das zurück, was dem Ort am meisten fehlt: Anwesenheit, menschliche Präsenz, die mehr ist als schnelles Durchhasten oder ängstliches Warten. Dieses „festgefressene Gefühl der Angst“, das den Eichbaum für viele kennzeichne, habe sie nicht, sagt etwa die Produktionsleiterin Anne Kleiner, die nicht nur täglich in der Opernbauhütte arbeitet, sondern mit Teilen des Teams bis zum Ende des Projekts in der „Klotzdelle“ wohnt: „Ich finde hier nichts bedrohlich. Für mich ist das mein Arbeitsplatz!“ Die Opernbauhütte sei „ein Geschenk“, mahnt auch Architekt Rick und träumt von einer Folgenutzung etwa für Jugendprojekte. Doch die klamme Stadt Mülheim ziert sich, die Finanzierung zu übernehmen.

Keine Hochkultur soll am Eichbaum entstehen, sagt die Songwriterin Bernadette La Hengst, einst Frontfrau der Hamburger Band Die Braut haut ins Auge. Für das Libretto der ersten Kurzoper hat sie sich auf die Suche nach Geschichten von Anwohnern gemacht, die sie in Workshops gemeinsam zu Texten verarbeiten. „Oper interessiert mich nicht“, sagt die Sängerin. „Ich war noch nie in einer Oper.“ Die am Eichbaum „absurd und utopisch“ wirkende Kunstform solle lediglich Mittel sein, „diesen einsamen Ort zu verändern“, sagt La Hengst, die im ersten, chansonartigen Teil der Eichbaumoper auch selbst singt. „Wichtig ist, dass wir die Leute aus der Gegend erreichen, dass wir das Denken in den Köpfen verändern. Wenn wir nur ein klassisches Opernpublikum erreichen, haben wir versagt.“

Sonderzug nach Mülheim

Danach sieht es nicht aus: Dutzende Nachbarn des Eichbaums haben dem Opernbauteam erzählt, was sie bewegt, was sie mit dem Ort verbindet, haben auf einer Vernissage eigene Kunst präsentiert oder in der abendlichen „Opernbaubar“ einfach nur ein Bier getrunken. Schon zur Hauptprobe am Samstag tauchten über 100 Menschen in der Essener U-Bahn-Station Hirschlandplatz auf – die Eichbaumoper beginnt bereits im Sonderzug nach Mülheim. Und unter freiem Himmel, auf der zusammengezimmerten Bühne über den Bahnsteigen, funktioniert das Zusammenspiel von Gesang, Musik und Lichteffekten, erscheint die Bühne Eichbaum plötzlich merkwürdig verändert: beinahe mystisch.

■ Premiere am 24. Juni (ausverkauft), weitere Vorführungen: 26. bis 28. Juni, 1. bis 4. Juli