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Archiv-Artikel

Die Ehre der Toten

Rund 150 Menschen gedachten gestern der vor zwei Wochen erschossenen Hatun Sürücü. Migranten waren kaum vor Ort. Zu einem breiten gesellschaftlichen Bündnis gegen Ehrenmorde, wie es die Veranstalter einfordern, ist es noch ein weiter Weg

VON SABINE AM ORDE

„Es ist einfach unfassbar“, sagt Serhan Turan. Einen Monat hat der 23-Jährige mit der gleichaltrigen Hatun Sürücü zusammengearbeitet. Er ist Tischler im Kreuzberger Ausbildungswerk, die lebenslustige junge Frau hat dort Elektroinstallateurin gelernt. Jetzt ist Hatun Sürücü tot. Sie soll mit ihrem westlichen Lebensstil die vermeintliche Familienehre verletzt haben. Drei ihrer Brüder werden verdächtigt, sie auf offener Straße erschossen zu haben, um die Ehre wiederherzustellen. „So etwas darf doch nicht passieren“, sagt Turan und schluckt. Um seiner Trauer Ausdruck zu verleihen, ist er gestern in die Tempelhofer Oberlandstraße gekommen. Dorthin, wo Sürücü vor 14 Tagen ermordet wurde.

Rund 150 Menschen haben sich hier auf der Freifläche zwischen zwei Häusern zu einer Mahnwache versammelt, die der Lesben- und Schwulenverband LSVD und das schwule Überfalltelefon Maneo initiiert haben. Die weitaus meisten von ihnen sind Frauen ohne Migrationshintergrund, viele dürften die 30 längst überschritten haben. Aber auch einige Mädchen und ein paar Männer sind gekommen. Es ist ein buntes Grüppchen, das sich hier versammelt hat. Zu einem breiten gesellschaftlichen Bündnis gegen Ehrenmorde, wie es die Veranstalter einfordern, ist es aber noch ein weiter Weg.

Am Rand des Geländes steht ein Foto der Toten mit ihrem kleinen Sohn, davor rote Grablichter, auf Abschiedsbriefen liegen Tulpen, Rosen und Chrysanthemen. In der ersten Reihe haben sich PolitikerInnen und AktivistInnen eingefunden, die später sprechen werden. Die Rechtsanwältin Seyran Ates steht da, auch Bastian Finke von Maneo, die Migrationsbeauftragte der Bundesregierung Marieluise Beck, Patricia Schneider von der Berliner Initiative gegen Gewalt an Frauen (BIG) und die SPD-Politikerin Dilek Kolat.

Sie alle zollen der Toten ihren Respekt, weil sie „den Mut hatte, ihren Weg zu gehen“ (Kolat) und „sich von Fesseln der Tradition befreit hat“ (Beck). Hatun Sürücü hat sich aus einer Zwangsheirat in der Türkei gelöst, ist in ihre Heimatstadt Berlin zurückgekehrt, hat den Schulabschluss nachgemacht und eine Ausbildung absolviert. Die Rednerinnen fordern die Migrantencommunity auf, das Thema endlich auf die Tagesordnung zu setzen. „Besonders die islamischen Organisationen müssen eine öffentliche Debatte über die Rolle der Frau führen“, ruft Dilek Kolat. Sie erntet Beifall dafür.

Die Angesprochenen aber sind kaum vertreten. Die islamischen Organisationen sind nicht gekommen, auch die säkularen Vereine positionieren sich hier nicht. Überhaupt ist die Beteiligung der MigrantInnen gering. Serhan Turan – obendrein als Mann – ist eine Ausnahme. Warum das so ist? Der junge Tischler zuckt mit den Schultern.

Neben ihm steht Dochi Klein, die Migrantin arbeitet in einem Qualifizierungsprojekt für Frauen. Die Veranstaltung sei schlecht beworben worden, der Zeitpunkt ungünstig, meint sie vorsichtig. „Aber“, sagt sie dann, „vielleicht liegt es auch daran, dass der Schwulen- und Lesbenverband die Mahnwache organisiert hat.“ Ähnlich sieht es auch die PDS-Politikerin Evrim Baba: „Da gibt es große Berührungsängste“, sagt sie. „Wenn die islamischen Organisationen aufrufen würden, hätte das eine ganz andere Wirkung gehabt.“

Die schwullesbischen Veranstalter wollen diese Kritik nicht gelten lassen. „Eine Mahnwache musste jetzt passieren“, sagt Bali Saygili vom LSVD-Bundesverband. Niemand sonst habe die Initiative ergriffen. Man sei eben, ergänzt Bastian Finke von Maneo, mit den Frauen solidarisch. „Wir kämpfen dafür, dass eigene Lebensentwürfe akzeptiert werden.“ Soll heißen: Der Mord an Hatun Sürücü fällt klar in ihren Zuständigkeitsbereich.

Vorne, beim Foto der Toten, haben unterdessen vier Mädchen ein Plakat niedergelegt. „Es tut uns leid, dass Schüler so einen Mist erzählen“, steht auf dem blasslila Papier. Die Mädchen kommen von der Neuköllner Thomas-Morus-Schule, die in der letzten Woche für Aufregung gesorgt hat. Dort hatten Schüler im Unterricht den Mord an Hatun Sürücü gutgeheißen, weil sie „wie eine Deutsche“ gelebt habe. Auch die Begriffe „Schlampe“ und „Hure“ sollen gefallen sein. Der Direktor der Schule hatte den Vorfall mit einem Brief öffentlich gemacht.

Aylin ist eine der vier Schülerinnen, als Einzige von ihnen trägt sie ein Kopftuch. Nach dem Tod ihrer Mutter vor drei Monaten habe sie sich dazu entschlossen, sagt die 16-jährige Türkin. Für eine Muslima sei der Lebensstil von Hatun Sürücü nicht richtig, findet Aylin. „Aber einen Mord darf man trotzdem nicht begehen.“ Dennoch regt sich das Mädchen mehr über ihren Lehrer als über ihre Mitschüler auf: „Er kann doch nicht fragen, wie wir das finden, und uns dann eine Klassenkonferenz anhängen“, sagt sie. „Er wollte doch, dass wir unsere Meinung sagen.“

Renate Klein hat die Presseberichte über die Neuköllner Schüler erst hierher getrieben. Die Frau in den Fünfzigern, die mit Politik sonst nichts am Hut hat, war schon lange nicht mehr auf einer Demonstration. Der Mord hat sie aufgeschreckt, die Reaktion der Schüler hat sie geschockt: „Es ist unfassbar, dass so etwas hier möglich ist.“

„Unfassbar“, diesen Begriff hört man heute häufig auf der Tempelhofer Oberlandstraße. Am Megafon hat die Rechtsanwältin Seyran Ates gerade beklagt, dass die Zahl der Opfer von Ehrenmorden weitaus höher sei, als sich viele vorstellen können. „Es ist an der Zeit“, fordert Ates, „dass alle Seiten endlich die Augen öffnen.“ Vielleicht hat der schreckliche Tod von Hatun Sürücü zumindest dazu etwas beigetragen.