: „Ich heul nicht“
Karin Henkel inszeniert am Goetheplatz Shakespeares „König Lear“
Fahrstuhl zum Schafott. So werden die Darsteller aus dem Orchestergraben auf die Spielebene gehievt: ein gigantischer Schreibtisch in einem grell ausgeleuchteten Büro der Macht. Vernunft und Verstand inszenieren dort perfekt ihre Selbstbehauptung. Erst den Egoismus maskieren und in Konventionen hüllen, dann lustig drauflos lügen und betrügen, ränken und rankünen.
Ausgelöst wird dieser Mechanismus von der Spielidee der alternden Majestät: Reichsteilung. Um das unterhaltsam zu gestalten, fragt König Lear mit weihnachtsmännlicher Bescherungslust seine Töchter, ob sie den Papa denn ordentlich lieb haben. Goneril (Gabriela Maria Schmeide) und Regan (Katrin Heller) betreten als erste die Spielfläche, erschmeicheln sich je ein Drittel des Landes.
Allein Cordelia (Verena Güntner) meint, dass jedes Attribut, jeder Vergleich, jedes Wort ihre Liebe verkleinere. Der König interpretiert dies als Abwesenheit von Liebe. Ganz leise beginnt er, seine Tochter zu verfluchen, um sich ins Machtwortgetöse hinaufzuspiralen, die Bühne leer zu wüten. Der Funken der Enttäuschung über die Spielverderberei bläst sich auf zu einem unerbittlichen Feuer. Lears Liebe zu Cordelia kennt keine Gnade.
Durch eigene Torheit und Verblendung provoziert der König die Revolution. Kinder an die Macht. Väter zu Idioten. Lächerlich also, wie Detlev Greisners Lear greint: „Ich heul‘ nicht“. Und wie er hilflos gegen das formidable Bühnengewitter anwimmert: „Ich halt‘ das aus.“ Erst verliert Lear die Attribute, die ihn zum König und anschließend jene, die ihn zum Menschen machen. Zwischen Jung und Alt wächst längst kein Gras mehr, keine Verständigung ist mehr möglich. Der Anfang vom Ende auf dann schräger Bühne: „Alles trostlos, finster, schwarz.“ Die wenigen Überlebenden übernehmen einen Trümmerhaufen. Alle Werte, der Glaube an eine höhere Instanz, an die Familie, an die Liebe, nichts hat sich als bestandswürdig erwiesen. Angst: rettungslos verloren ist die Menschheit. Soweit die große Premiere des großen Dramas der Saison im großen Haus des Bremer Theaters.
Leitmotivisch durchgestartet ist die Inszenierung Karin Henkels mit einem fröhlichen „Papa!“-Ruf. Edmund, der uneheliche Sohn des Grafen Gloster, schleudert ihn in den Saal. Einerseits drückt sich so die Sehnsucht aus, Papas Liebling zu sein, andererseits die Lust, Papas Stelle einzunehmen. Edmund diktiert: „Diese listige Einrichtung der Ehrfurcht vor dem Alter verbittert uns die Welt in unserer besten Jugendzeit. Sie verweigert uns unser Vermögen, bis unser Greisentum es gar nicht mehr genießen kann.“ Die Auflehnung gegen die Väter mündet im Krieg der Generationen. Für Shakespeare, den mächtigen Menschendeuter, Beweggrund zu einer Erschütterung von existenzieller, lebensvernichtender Gewalt.
Lear kommt erst im Wahnsinn zu der Erkenntnis, die sich alle anderen längst zu nutze machen. Nämlich das Wissen um den unbewussten Antrieb allen Seins, „dass auf dem Erbarmungslosen, dem Gierigen, dem Unersättlichen, dem Mörderischen der Mensch ruht, in der Gleichgültigkeit seines Nichtwissens, und gleichsam auf den Rücken eines Tigers in Träumen hängend“ – wie Nietzsche so hübsch formuliert hat. Neben dem Zerbrechen der Welt schwingt das so mit, so groß und gewaltig, dass man es herüber- und herabzerren muss auf den Erfahrungshorizont des heutigen Polit-, Beamten-, Familienbetriebs. So mag die Regisseurin gedacht haben.
Als den Raffgierkindern die Lust am Siegen versiegt, die grausam selbstzerstörerische Emanzipation in der Einsamkeit endet, ist die Inszenierung längst ausgebrannt im leer laufenden Aktionismus. Wenn das vielschichtige Stück schon auf ein Thema hin entschlackt wird, sollte man den Text auch dementsprechend eindampfen. Der fast vierstündige Abend funktioniert zunehmend als Animation zum Gähnen. So dass dem Fahrstuhl zum Schafott der Antrieb versagt.
Jens Fischer