: Technologie, Talente und Toleranz
So lautet der Dreiklang Stuttgarts. Dort haben 40 Prozent der Bürger einen Migrationshinter- grund. Doch sie sind selbstverständlicher Teil der Stadt. Wer verstehen will, wie das funktioniert, muss in das „Haus 49“. Ein Ortstermin
■ Statistisch gesehen ist Deutschland schon lange ein Einwanderungsland, anerkannt wird das aber erst seit Kurzem. Seit 2005 ist Maria Böhmer (CDU) die Migrationsbeauftragte der Bundesregierung – die erste Ausländerbeauftragte, die mit im Kanzleramt sitzt.
■ 2001 hat Stuttgart als eine der ersten deutschen Großstädte eine Gesamtstrategie für kommunale Integrationspolitik entwickelt. Die „Stabsabteilung für Integrationspolitik“ ist direkt dem Büro des Oberbürgermeister Wolfgang Schuster (CDU) unterstellt. 2006 hat die Stadt das Städtenetzwerk „Cities for Local Integration Policies for Migrants“ mitbegründet, in dem 30 Städte mitmachen.
■ Ende 2008 hatte Stuttgart 593.070 Einwohner, davon 228.510 mit „Migrationshintergrund“: 126.121 Ausländer, 67.704 Eingebürgerte, 37.685 Aussiedler sowie deren minderjährige Kinder. Von den Drei- bis Fünfjährigen haben fast 60 Prozent einen Migrationshintergrund – ohne sie würde Stuttgart vergreisen.
AUS STUTTGART INGO ARZT
„Die Affen sind raus aus dem Gehege. Der Zoowächter wundert sich, dass die Tiere weg sind.“ Stimmt nicht ganz, was Mikail, Grundschüler in der 2. Klasse, da aufschreibt. Er steckt den Stift kurz in den Mund, schaut auf die Bildergeschichte mit den Affen und dem Zoo und dann auf das Blatt Papier, auf das er die Sätze mit geschwungenen Handbewegungen eher malt als schreibt. „Stimmt doch.“ Nein. Heißt nicht Zoowächter, heißt Zoowärter. Den letzten Satz muss er gleich ganz wegradieren.
Die 17-Jährige Deutschtürkin Sibel hat eine Engelsgeduld mit Mikail. Sie macht das freiwillig, die Hausaufgabenbetreuung im „Haus 49“ im Stuttgarter Nordbahnhofsviertel. Wenn man in Deutschland eine Vorzeigestadt in Sachen Integrationspolitik sucht, dann muss man nach Stuttgart. Und wenn man verstehen will, wie das funktioniert, dann muss man ins Haus 49 und das Nordbahnhofsviertel.
Eine altes Eisenbahnerviertel zwischen Gleisanlagen, Rosensteinpark und dicken Straßen. Alte Backsteingebäude, Kneipen und Gehwege, die so aussehen, wie Stuttgart dem Vorurteil nach auszusehen hat. Als würden Schwaben jedes Wochenende Kehrwoche machen und ansonsten bodenständig ihr Leben leben. Dabei wohnen hier fast nur Migranten.
In Stuttgart haben 40 Prozent der Einwohner das, was man landläufig einen „Migrationshintergrund“ nennt. Viele Familien kamen schon während der großen Anwerberzeit in den 50ern und 60ern, als man sie noch „Gastarbeiter“ nannte und dachte, sie würden nach ein paar Jahren Fließband „beim Daimler“ oder bei Bosch wieder in ihre Heimat zurückkehren. Heute wird Stuttgart für sein im Jahr 2001 ausgerufenes „Bündnis für Integration“ überall gelobt.
Der Europarat nahm das Programm als Vorlage für einen Integrationsleitfaden für europäische Städte. Die Unesco zeichnete die Stadt 2004 mit dem „Cities for Peace“-Anerkennungspreis aus. Ihr Integrationsbeauftragter Gari Pavkovic hat Städte wie Köln, München und Frankfurt am Main beraten. Menschen aus 170 Nationen leben in der Stadt. Man spricht so ziemlich jede Sprache, außer Hochdeutsch.
Das Haus 49 ist genau das, was die Stadt ausmacht. Ein Potenzial an engagierten Bürgern, das die Politik nach Kräften unterstützt, und vor allem Migranten, die selbst für Integration sorgen. Im dritten Stock sitzen ein paar zusammen und werden von der Sozialarbeiterin Jutta Horsthenke ermahnt, erst mal Hausaufgaben zu machen, statt „Uno“ zu spielen. Marko, Vater zugewanderter Italiener, macht also an seinem Rap-Referat für Deutsch weiter: „Sido heißt eigentlich Paul Würdig“, schreibt er auf eine Karte. Syedghane ist trotz Englischprüfung relaxt: Er kam 2004 aus Afghanistan, jetzt hat er einen Ausbildungsplatz als Koch. „Banker wollen gute Zahlen, Journalisten Titelgeschichten, das hier ist unser Erfolg“, sagt Horsthenke.
Vor 28 Jahren haben ein paar Eltern der Grund- und Hauptschule Rosensteinschule angefangen, Lernhilfe für Schüler zu geben. Heute haben sie ein eigenes Haus, fünf Hauptamtliche wie Horsthenke und 20 ehrenamtliche wie Sibel. Sie hat es anderen Helfern zu verdanken, dass sie ihren Notenschnitt von 3,6 in der achten Klasse auf 2,2 in der neunten Klasse verbessern konnte und heute eine Realschule besucht. Später will sie das Gymnasium nachmachen und dann studieren. Der Integrationsbeauftragte der Stadt weiß, was es heißt, sich ohne Einrichtungen wie das Haus 49 durchschlagen zu müssen. Er erinnert sich noch gut an seinen ersten Tag auf dem Gymnasium: „Ich also mit einer Stoffhose bis zur Brust, rosa Hemd und Knoblauchfahne“, sagt Gari Pavkovic, und skizziert mit seiner Hand eine Fahne vor seinem Mund. Es war ein schwieriger Start: Er kam mit zehn Jahren aus Mostar im damaligen Jugoslawien nach Deutschland und konnte kein Wort der Sprache.
In der 5. Klasse kam er in die Hauptschule. Seine Mutter ging im Krankenhaus putzen. Irgendwann sah sie ein Schulbuch bei einer Patientin. In dem standen ganz andere Sachen als in dem ihres Sohnes. Sie fragte, warum. So erfuhr sie von Gymnasien und den drei Schulsystemen.
Ein Zufall, sonst kümmerte sich damals niemand. Sie wollte, dass Gari studiert, und suchte und fand ein Gymnasium, das ihm eine Chance gab. In der 13. Klasse waren es für Pavkovic dann „Parka, Jeans, selbst gedrehte Drums“, in Deutsch bekam er die beste Abiturnote seines Jahrgangs. Später studierte er Psychologie.
Heute sagt er: „Das Glück, die richtigen Personen zur richtigen Zeit zu treffen, soll nicht über die Zukunft eines Menschen entscheiden.“ Dann zählt er die Ziele der Stadt auf: Ab dem dritten Lebensjahr soll jedes einzelne Kind individuell gefördert werden. 98 Prozent der Kinder ab dem vierten Lebensjahr haben schon heute einen Platz in einer Kita. Sprachförderung gibt es für Kleinkinder ebenso wie für Gymnasiasten – oder für Eltern: zum Beispiel im Programm „Mama lernt Deutsch“. Sport und musikalische Bildung sollen ebenso jedem Kind offenstehen und auch der Unterricht in der jeweiligen Muttersprache. Denn Zweisprachigkeit erhöhe nicht nur die beruflichen Chancen, sondern auch die Exportchancen der Wirtschaft, sagt Pavkovic. Der Oberbürgermeister selbst leitet den Ausschuss der Stuttgarter Bildungspartnerschaft im Gemeinderat, in dem das Netzwerk aus Vereinen, Kirchen, Ämtern, Stiftungen, Wirtschaft und Politik koordiniert wird.
Natürlich hat auch Stuttgart Probleme. Die Hauptschulen etwa, in die kaum noch Kinder gehen, deren Muttersprache Deutsch ist. Selbst bei den im Haus 49 betreuten Schülern findet knapp die Hälfte der Absolventen der Hauptschule im ersten Jahr keine Lehrstelle. Trotz Förderung und obwohl die Arbeitslosenquote unter Ausländern in Stuttgart gerade mal 5 Prozent beträgt.
Monika Schubert kann einiges davon erzählen. Sie gibt seit 28 Jahren zweimal die Woche Lernhilfe im Haus 49, war einer der Initiatoren und bekam für ihr Engagement die Ehrenplakette der Stadt verliehen. Sie hat Kinder erlebt, die einen kaum mehr auszugleichenden Rückstand in der Schule hatten und irgendwann studiert haben. Und manchmal, sagt sie, tut es richtig weh, wenn man intelligente, wissbegierige Kinder sieht, die aus heiterem Himmel abstürzen. Warum auch immer, manchmal passiert was in den Familien, sagt sie und schluckt.
Menschen wie sie meint Pavkovic, wenn er sagt, es hänge lange nicht alles am Geld: Immerhin gibt die Stadt 600 Millionen Euro im Jahr für 90.000 Kinder und Jugendliche aus – die Hälfte von ihnen mit Migrationshintergrund. „Wir sind keine Maschinen, die man in einen Integrationskurs schickt, und dann kommen sie integriert wieder raus“, sagt er. Vor allem ist es eine Sache der Einstellung.
Integration wird in Stuttgart nicht als Kostenfaktor oder reine Kriminalprävention betrachtet. Die Region mit der höchsten Exportquote in Deutschland braucht Ausländer, ihre Talente, ihre Sprachen und ihre Weltoffenheit, sagt Pavkovic. „Sonst wäre Stuttgart längst ein Altenheim, und Daimler würde woanders produzieren“, sagt er. Man will kulturelle Vielfalt auch wirtschaftlich nutzbar machen: „Technologie, Talente und Toleranz“ heißt der Dreiklang.
Zudem haben die „Ureinwohner“ weit mehr als die Wirtschaftskraft von den Migranten. Rolf Graser nennt die Schwaben „Ureinwohner“. Er ist der Geschäftsführer des „Forums der Kulturen Stuttgart“; auch so ein Verein, den die Stadt zwar finanziell unterstützt, den man aber für Geld nicht einfach kaufen kann: ein Dachverband von heute 80 Vereinen von Migranten. Vor elf Jahren haben sich einige zusammengetan, nun haben sie eine zentrale Interessenvertretung.
In diesem Jahr gibt es vom 30. Juni bis zum 5. Juli zum achten Mal das „Sommerfestival der Kulturen“, direkt auf dem Marktplatz vor dem Rathaus der Stadt: Tänze aus Russland und Südamerika, Rock aus der Türkei, Maultaschen mit afrikanischer Füllung, 60.000 Besucher werden erwartet. Sonst bietet das Forum Kurse an: von politischen, wie über Sinn und Zweck von Kommunalwahl, über die deutsche Rentenversicherung bis zum Theaterworkshop. Und es bringt das Magazin INterkultur Stuttgart heraus.
Seit Kurzem hat das Forum eine Stelle eingerichtet, die Entwicklungszusammenarbeit koordiniert. Es führt professionelle Organisationen mit den Vereinen zusammen, von denen viele Mitglieder Geld in die alte Heimat schicken.
So sorgen Migranten für Entwicklungshilfe und Migration –weshalb die Stadt versucht, möglichst viele für den Beruf des Lehrers oder für eine Laufbahn in der Stadtverwaltung zu gewinnen. Auch Sibel will später mit Menschen arbeiten, etwas Ähnliches machen wie im Haus 49. Auch wenn es manchmal anstrengend ist.
Mikail hat seine Geschichte erst nach zwei Stunden aufgeschrieben: Der Zoowächter, nein, Zoowärter hat die Affen wieder eingefangen. Draußen vor dem Fenster kicken ein paar Jungs. Mikail packt seine Hefte in den Schulranzen und ist ziemlich schnell weg. Der Tisch: voll abgeriebener Radiergummireste.